AB Syndrom – „Frontalcrash“

Künstler AB Syndrom

AB Syndrom Frontalcrash Review Kritik
AB Syndrom machen auch auf „Frontalcrash“ komplett digitale Musik.
Album Frontalcrash
Label Herr Direktor
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

AB Syndrom haben es auf 3 Millionen Spotify-Streams gebracht mit einem hochgradig individuellen Mix aus elektronischen Klängen und Texten, die man guten Gewissens auch als Poesie bezeichnen kann. Das Duo aus Berlin setzt dabei vor allem auf Eigenständigkeit: Komposition, Produktion, Artwork, Videoclips – alles erfolgt bei Bennet Seuss und Anton Bruch in Eigenregie, natürlich auch auf ihrem eigenen Label.

Wenn solch ein Duo für sein viertes Album einen Frontalcrash ankündigt, darf man Tiefgang und Turbulenzen erwarten. Beides bietet die Platte, die innerhalb von zwei Jahren entstanden ist, in der Tat. Der Frontalcrash beschreibt die gesellschaftliche Lage, aber auch die persönliche Situation, zudem lässt sich der Begriff sicher auch auf ihre kreative Herangehensweise an die Musik übertragen. AB Syndrom arbeiten auch hier komplett digital, nicht nur in der Umsetzung, sondern auch in der Denke. „Mit dem Computer fängt es bei mir eigentlich immer an“, sagte mir Bennet Seuss 2016 im Interview. „Ich mache erst die Musik, der Text sammelt sich dann irgendwie an. Oft bestehen die Texte aus Notizen, die ich im Handy gemacht habe, und ich glaube, so werden sie auch besser als wenn ich mich hinsetzen und auf Krampf versuchen würde, etwas zu texten.“

Das scheint auch hier zu gelten. Der Frontalcrash lässt Deutsch und Englisch aufeinander prallen, Alltagserlebnisse und Philosophie, Nähe und Distanz, Zweifel und Vertrauen. Als Themen kann man Depressionen und Fernbeziehungen ausmachen, oft bleiben die genauen Verortungen der Inhalte aber schwierig. Im Titelsong zu Beginn der Platte, der von wilden Trommeln geprägt wird, ist „suicidal“ eines der wenigen Wörter, die man verstehen kann. Später ist die Windschutzscheibe nicht nass vom Regen, sondern von Tränen. Somnambul ist elegant, verletzlich und intelligent, darin lassen sich der Wunsch nach maximaler Symbiose erkennen und das Wissen, dass sie letztlich unmöglich ist zwischen zwei Menschen. Forty Forty verweist wieder auf eine Beziehung, die extrem fragil zu sein scheint, und man ahnt, dass sie genau deshalb so wertvoll ist.

Highspeed ist wahrscheinlich das Stück, das AB Syndrom anno 2020 am besten erklärt. Bennet Seuss, der alle Texte schreibt, gesteht darin seine Ungeduld, die wohl der wichtigste Treiber für die unberechenbare Musik dieses Duos ist: „Ich fühl mich nicht schuldig, nur weil ich ungeduldig bin / gib mir den Startschuss / pull den Trigger / trigger bei mir irgendeinen Sinn.“ Diese Perspektive findet sich auf Frontalcrash immer wieder: Alles muss sofort passieren, das Gestern ist uninteressant und selbst das Jetzt kann niemals so spannend sein wie die Möglichkeiten des Morgen. „Sei unberechenbar / sie tracken dich“, heißt es später in Heiße Luft, das könnte als Motto gelten für diesen Sound, in dem alle 2 Sekunden etwas Neues passiert, ebenso wie das ebenfalls in diesem Songtext erwähnte „Messenger-Massaker“.

Musikalisch gibt es manchmal enorm kreative Percussions wie in Frontex, asiatische Elemente in Highspeedlove (AB Syndrom haben zuletzt auch Konzerte in Vietnam, Hongkong und Manila gespielt), tropische Sounds wie im eingängigen Bora Bora oder zum Abschluss des Albums mit Tempo einen Fast-acappella-Song. Fahr dich nach Hause klingt wie Musik aus einem Traum oder Theaterstück, die sich von behutsam zu brutal entwickelt. Shell Öl zeigt sehr typisch, wie die Ästhetik des Duos funktioniert: Der Beat, die weiteren Instrumente und die Stimme verschmelzen zu einer Gesamtanmutung, in der sie untrennbar sind und in der jedes Element gleich wichtig ist.

Das Duett Spiegelverkehrt setzt die Zusammenarbeit mit Mine fort, mit der AB Syndrom schon auf Tour waren, für die sie einen Remix gemacht haben und mit der sie 2019 das Stück Spiegelbild produziert hatten. „Ich stehe im Gewittersturm deiner Verbitterung“, lautet eine der schönsten Zeilen darin, begleitet von dezenten Beats und Effekt-Chaos am Anfang und Ende des Songs. Der Effekt dieses Frontalcrash ist ein großes Staunen und Rätseln. Manchmal wünschte man sich, man könne dazu auch etwas öfter singen, tanzen oder mitfühlen, aber dafür ist diese Musik zu bewusst als Kunst gedacht.

Nähe und Distanz prägen auch das Video zu Fahr dich nach Hause.

Website von AB Syndrom.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.