Achim Reichel – „Das Beste“

Künstler Achim Reichel

Achim Reichel Das Beste Review Kritik
37 Lieder umfasst die Werkschau von Achim Reichel.
Album Das Beste
Label BMG
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung


Er ist aufgewachsen in St. Pauli, mit Blick auf die Frachtschiffe, Docks und Verladekräne. Sein Vater ist zur See gefahren, ebenso sein Großvater, genauso wie der Onkel. Selbst wenn das alles nicht so wäre, müsste man feststellen: Achim Reichel ist ein Mann wie ein Hafen.

Im Jahr, in dem er 75 Jahre alt wird, ist der Hamburger längst ein Fixpunkt in der deutschen Musiklandschaft, und neben dieser Verlässlichkeit und Kontinuität kann man seiner gerade veröffentlichten Werkschau Das Beste ein paar weitere Eigenschaften entnehmen, die auch zum Hafenleben passen: Es gibt hier natürlich eine große Liebe zum Meer, eine ganz natürliche Internationalität und eine ausgeprägte Männlichkeit einschließlich der Tendenz, ab und zu einmal über die Stränge zu schlagen. Die Werkschau schöpft ausschließlich aus seinem deutschsprachigen Solowerk, das immerhin 22 Alben umfasst, und destilliert daraus 37 Songs auf zwei CDs, Vierfach-Vinyl oder Download, alles neu gemastert.

Als „Kulturbotschafter des Nordens“ wurde Achim Reichel einmal bezeichnet, und seine Verankerung an der Küste ist das prägende Element dieser Best-Of-Sammlung. Sein größter Hit Aloha Heja He zeigt das und funktioniert auch heute noch als Fernweh-Hymne, weil man ihm den harten Kerl und sehnsüchtigen Weltenbummler weiterhin abnimmt. Rolling Home beweist, dass Bluesrock auch auf Norddeutsch geht. Fliegende Pferde landen bei ihm natürlich ebenfalls am Strand, als Metapher für den Traum von der einfachen Flucht aus allem, was die alte Bundesrepublik charakterisierte.

Auch eine Live-Version von Auf der Reeperbahn nachts um halb eins ist auf Das Beste enthalten, und der 75-Jährige erweist sich (nach Hans Albers und Udo Lindenberg) als mindestens der drittbeste denkbare Interpret für diesen Klassiker. Noch weiter in die Vergangenheit geht es, wenn Achim Reichel das Material alter Seemannsdichter aufgreift. Trutz blanke Hans und die Mörderballade Pidder Lüng stammen aus der Feder von Detlev von Liliencron, in der Vertonung von Nis Randers (Otto Ernst) lässt er Seefahrt auf Disco treffen.

Dieser Mix aus Genres ist nur das sichtbarste Zeichen für eine Schmelztiegel-Mentalität, die man der Musik ebenso anhört wie den Texten. Halt die Welt an eröffnet das Album als Reggae mit der Botschaft: Zufriedenheit ist nicht das schlechteste Ergebnis, wenn man die 75 erreicht hat, schöne Erinnerungen auch nicht. Leben Leben ist inhaltlich ähnlich gelagert, es geht um Gelassenheit, die hier beinahe zur Philosophie wird, aber nie auf bierernste Weise. Kuddel’s Revolution wird ein feuchtfröhliches Plädoyer für Multikulti, Halla Ballu Ballé vereint mit großer Lust auf Lautmalerei wieder Einflüsse aus aller Herren Länder und lässt verstehen, warum Achim Reichel 2007 sogar mit dem Deutschen Weltmusikpreis ausgezeichnet wurde.

Dass man am Hafen kräftig zupackt und derbe flucht, hat in den Figuren dieser 37 Lieder ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen. Am besten du gehst wird in der hier vertretenen Live-Version zu einem klassischen Blues, der zugleich sagenhaft maskulin, cool und unterschwellig bedrohlich ist. Auch Steaks und Bier und Zigaretten, also die Grundnahrungsmittel der Schimanski-Männlichkeit der 1980er Jahre, werden sehr ausgelassen gefeiert, ebenfalls als Live-Aufnahme, weil diese einem Song „noch mal eine ganz andere Realität“ verleihen kann, wie Achim Reichel treffend sagt.

Wer sowas Liebe nennt entpuppt sich als Warnung vor einer Femme fatale, von Mann zu Mann. Boxer Kutte ist eine großartige Underdog-Hymne aus der Zeit, als der Sänger eng mit Jörg Fauser zusammenarbeitete. „Jörg Fauser hat mich als Lyriker das Laufen gelernt“, sagt er heute. Dieses Bild von Männern, die auch zuschlagen können und Frauen in erster Linie als Ziele für ihre Eroberung oder ihren Wettbewerb sehen, und von einer Männlichkeit, die mit großem Selbstbewusstsein und großer Selbstverständlichkeit auftritt, wirkt in Zeiten von #MeToo manchmal etwas gestrig, ist aber nicht mit Chauvinismus zu verwechseln. Respektlos wird der Damenwelt hier niemals begegnet, und mit einer solchen Attitüde wäre Achim Reichel wohl schon aufgrund seines Geburtsjahres nicht gut gefahren: Man darf ihn gerne zu den 68ern zählen, auch wenn Rebellion, Protest und Aufbegehren bei ihm nicht plakativ vertreten werden. „Politisches Lied muss nicht immer Parolen-Singen bedeuten. Der Sound einer Musik ist auch eine Haltung, der Sound kann auch unangepasst sein“, weiß Achim Reichel.

Dass der Mann, den die Süddeutsche Zeitung als „Kolumbus der Rockmusik“ bezeichnet hat, einen notorischen Hang zum Unangepassten und einen steten Drang zum Vorwärtskommen hat, beweist seine Werkschau eindrucksvoll, selbst wenn sie nur einen Teil seiner musikalischen Entwicklung abdeckt. Schon 1971 (also drei Jahre vor Kraftwerks Autobahn) testete er mit dem Projekt A. R. & Machines elektronische und psychedelische Klänge. „Die Musik war wirklich innovativ, sie kam nur viel zu früh und im falschen Land“, sagt er heute. Auch, als er 1975 das erste deutschsprachige Album vorlegte, enthielt das mutige Musik: Die Idee, als etablierter Rockmusiker plötzlich Shantys in Mundart zu singen, dürfte für einige Zeitgenossen ein Schock gewesen sein.

Die eine oder andere Aufnahme aus dieser Zeit kommt ihm „manchmal vor wie das Leben vor dem Leben“, sagt er heute. Lust auf Experimente kann man aber durchaus als Konstante in seinem Schaffen betrachten. Der Spieler, 1983 sein erster großer Hit in deutscher Sprache, ist zwar ebenfalls getextet von Jörg Fauser. Bei dem fast gleichaltrigen Literaten konnte er allerdings sein eigenes „Temperament und Naturell in den Texten wiederfinden“, sagt Achim Reichel. Wer kein Risiko eingeht, ist nicht lebendig, lautet die Botschaft zu diesem auch heute noch coolen, bedrohlichen und eigenständigen Sound. „Format war und ist das Zauberwort der Zeit. Aber wer sich dem ergibt, hat sich ergeben. Denn Schubladen sind für die Kunst tödlich“, betont Achim Reichel.

Sein Faible für das Ungewöhnliche zeigt sich nicht zuletzt in der Praxis, altdeutsche Volkslieder oder Gedichte in Songs zu verwandeln. Joseph von Eichendorff und Hoffmann von Fallersleben sind nicht vor ihm sicher, auf Das Beste finden sich auch Vertonungen von Theodor Fontanes John Maynard (als brodelnder Blues) und Herr von Ribbeck, das zu einer wilden Sause wird, in der das Landleben nach Lebensfreude, Ursprünglichkeit und Zusammenhalt klingt. Nach Ansicht der Stuttgarter Zeitung gelingt es ihm, „unsere Dichter und Denker rocken zu lassen, ohne dabei plump populistisch oder angestrengt schöngeistig zu wirken“ – da kann man getrost zustimmen.

Von Fallerslebens Oh wie kalt ist es geworden wird sehr stimmungsvoll, Sophie, mein Henkersmädel (von Christian Morgenstern) bekommt viel Charakter, Goethes Röslein auf der Heiden wird mit erstaunlicher Lässigkeit modernisiert, mit Der Mond ist aufgegangen holt Achim Reichel das Abendlied von Matthias Claudius nach Asien, was erstaunlich gut funktioniert. Der Erlkönig erweist sich als eine überzeugende Umsetzung des Goethe-Gedichts, und das will etwas heißen. In den von ihm vertonten Dichterfürsten sieht er „Wortmagier“, sagt der Hamburger – mit entsprechend viel Respekt und Fantasie begegnet er ihnen.

Natürlich gehen die Experimente auch manchmal schief, wofür Das Beste ebenfalls Beispiele liefert. Winde wehen ist etwas selbstverliebt, in Sa-Lo-Me setzt Achim Reichel die altmodische Idee um, dass der Sound zum Inhalt passen muss, deshalb gibt es ein paar arabische Elemente, die sich nicht alle harmonisch in den Song integrieren. Der blonde Hans schickt seinen Helden mit einigen Klischees auf große Fahrt, Wahre Liebe will typische „Harte Schale, weicher Kern“-Romantik erzeugen, löst aber erstmals Schlager-Alarm aus.

Die Empörung in Exxon Valdez ist aufrecht, auch wenn sich klanglich viele Achtziger-Klischees wie eine Ölpest um die Komposition legen. Auch Entspann Dich zeigt, dass der Versuch, in seinem Sound mit der Zeit zu gehen, nicht immer gut gelingt, ebenso wie in Belsazar das Spiel mit Exotik. Eine Ewigkeit unterwegs will besonders poetisch, weise und virtuos sein, wirkt dabei aber verkrampft. Für einige weitere Tracks, die zwar wichtige Meilensteine in seinem Oeuvre sind, in der Soundästhetik aber vielleicht angestaubt sein könnten, findet Achim Reichel indes einen guten Ausweg: Sie sind auf Das Beste als sehr lebendige Live-Versionen vertreten.

Die Rolle, die unterm Strich am besten das Wirken von Achim Reichel zusammenfasst, ist die eines Pioniers. „Ur-Vater des deutschen Rock“ nannte die Nordwest Zeitung den Mann, der von 1960 bis 1966 als Frontmann der Rattles knapp 30 Singles veröffentlichte, 1963 mit den Rolling Stones durch England tourte und sich 1966 auch mit den Beatles die Bühne teilte, als die Fab Four ihre einzige Deutschland-Tournee spielten.

Die Lässigkeit, die aus dieser großen Erfahrung erwächst, ist vielleicht einmalig hierzulande, wie beispielsweise Auf der Rolltreppe zeigt. Nicht viele deutsche Rocksänger können aus einer Alltagsszene einen so überzeugenden Song machen, und diese Fähigkeit zeigt: Achim Reichel hat Rock verinnerlicht, es ist seine natürliche Ausdrucksform. Es ist wohl kein Zufall, dass der Song der Phase entspringt, die man vielleicht als Blütezeit in seinem Solowerk betrachten kann: Melancholie und Sturmflut war 1991 sein erfolgreichstes Album, neben diesem Song und Aloha Heja He war darauf auch Kuddel Daddel Du vertreten, ein Gassenhauer mit viel Sympathie für die Gestalten der Nacht. Auch das ebenso witzige wie eingängige und mitreißende Kreuzworträtsel beweist die intuitive Fähigkeit, Hits mitten aus dem Leben zu erschaffen.

Diese Souveränität ermöglicht es Achim Reichel auch, im Alterswerk relevant und überzeugend zu bleiben. Die Nacht hat viele Sterne, hier als Live-Mitschnitt zu hören, entfaltet eine so große und herbe Romantik, dass man es sich auch von Rio Reiser vorstellen könnte. Atmosphäre und Gestus der Regenballade sind durchaus mit Nick Cave zu vergleichen, mit Meine Seele spannte weit ihre Flügel aus scheint sich der 75-Jährige schließlich als deutscher Johnny Cash auszuprobieren.

Der Ruhestand ist für Achim Reichel wohl auch deshalb noch kein Thema, weil er spürt, wie gut diese Lieder weiterhin funktionieren. Zum Best-Of-Album folgt im Herbst eine große Tour, zudem schreibt er an seiner Biographie. Man darf gespannt sein und wohl einen ebenso klugen wie dankbaren Rückblick erwarten: „Ich fühle mich wie für die Musik geboren, habe aber auch irre viel Glück gehabt und manchmal frage ich mich: Wo soll ich eigentlich meine Kerze aufstellen?“

Der Trailer zum Best-Of-Album.

Die Tourneedaten für die Konzerte 2019:
23. Okt 2019 Flensburg – Deutsches Haus
24. Okt 2019 Lübeck – Muk
26. Okt 2019 Berlin – Admiralspalast
28. Okt 2019 Hannover – Theater Am Aegi
29. Okt 2019 Hamburg – Laeiszhalle
31. Okt 2019 Dresden – Alter Schlachthof
01. Nov 2019 Husum – Kongresszentrum
02. Nov 2019 Oldenburg – Kulturetage
04. Nov 2019 Bremen – Glocke
05. Nov 2019 Braunschweig – Stadthalle
06. Nov 2019 Osnabrück – Rosenhof
08. Nov 2019 Mannheim – Musensaal
09. Nov 2019 Mainz – Frankfurter Hof
11. Nov 2019 Essen – Lichtburg
12. Nov 2019 Köln – Gloria
13. Nov 2019 Nürnberg – Hirsch
15. Nov 2019 Leipzig – Haus Auensee
16. Nov 2019 Düsseldorf – Savoy
17. Nov 2019 Bielefeld – Ringlokschuppen

Website von Achim Reichel.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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