Alex Cameron – „Oxy Music“

Künstler*in Alex Cameron

Alex Cameron Oxy Music Review Kritik
Trotz Pandemie ist „Oxy Music“ durchaus heiter geworden.
Album Oxy Music
Label Secretly Canadian
Erscheinungsjahr 2022
Bewertung

Sex im Hotelzimmer bei offener Tür. Die Begleitung einer Pornodarstellerin, die Spaß an ihrem Job hat. Knutschen mit Fremden. Das Beobachten der Flirtversuche der hässlichsten Frau in der Bar. Durchbrennen mit einer Stripperin.

Das sind ein paar der Themen, über die Alex Cameron auf seinen bisherigen drei Alben gesungen hat. Man erkennt schnell: Solche Erlebnisse sind während einer Pandemie rar. Ihm drohte also in jüngster Zeit womöglich der Stoff auszugehen. „Die einzigen Menschen, die überhaupt noch draußen unterwegs waren, waren die Junkies“, erinnert er sich an einen Aufenthalt in New York City während des Lockdowns im Frühjahr 2020. Der Mann aus Sydney brauchte für das heute erscheinende Oxy Music deshalb einen neuen Ansatz, und der ist angesichts der eingangs erwähnten Hormon-lastigen Themen zunächst überraschend. Er lautet: Reflexion.

Er behandelt auf diesem Album beispielsweise Drogen- und Medikamentensucht, kulturelle Aneignung und toxische Männlichkeit. Beschäftigt man sich ein bisschen eingehender mit seinem bisherigen Schaffen, ist das aber nicht mehr ganz so erstaunlich, aus zwei Gründen. Erstens konnte man in Songs wie PC With Me, Internet oder Stepdad schon erkennen, dass der Horizont von Alex Cameron über das nächste Tête à tête (oder meinetwegen auch die nächste Ménage à trois) hinausreicht und er gerne auch mal beispielsweise traditionelle Konzepte von Familie, Beziehung und Maskulinität oder unser ebenso schillerndes wie scheinheiliges Online-Verhalten hinterfragt. Zweitens sollte man nicht den Fehler machen, die Kunstfigur Alex Cameron mit dem Menschen eins zu setzen. Den gescheiterten Entertainer und heruntergekommenen Playboy gibt er auf der Bühne und in seinen Songs meisterhaft – aber er ist es nicht im Leben.

Oxy Music zeigt das noch viel klarer als seine bisherigen Alben, insbesondere als der Vorgänger Miami Memory, bei dem er noch den autobiografischen Charakter betont hatte. Hier entspricht das lyrische Ich noch häufiger ausgedachten Charakteren, und das ist insbesondere in den hyper-hysterischen USA schon mutig, wo man kaum mehr in der Lage sein will, zwischen Aussage und Absender zu trennen. Der amerikanische Schriftsteller Nico Walker beschreibt das im Begleittext zur Platte sehr treffend: „Cameron ist auf trügerisch Weise kompliziert. In ihm steckt eine Menge Ironie. Und dann ist er manchmal ernsthaft. Ein anderes Mal ist er ernsthaft ironisch. Cameron ist ein Paradoxon der Paradoxien. Stilvolle Paradoxien. Aufrichtige Paradoxien. Trotzige Paradoxien. Das Einzige, was er nicht zu sein scheint, ist der Typus des Texters, der sich nicht genug Mühe gemacht hat. Er ist ein erstklassiger Lyriker. Ein Dichter. Wenn man das alles zusammen nimmt, ist eines klar: dass er missverstanden werden wird.“

Er ist also nicht zwangläufig der Typ, der im Auftakt Best Life zu Saxofon, ELO-Harmonien und Handclaps seine vermeintlich mangelhafte Online-Präsenz beklagt. Der in Prescription Refill zu einem stilechten Prince-RnB-Groove eine Liebeserklärung macht, sich im grandiosen K-Hole als „the king hipster“ feiert, in Dead Eyes als „skinny white boy“ zwischen Blues, Gospel und der Suche nach dem nächsten Kick spaziert, im Titelsong gemeinsam mit Jason Williamson (Sleaford Mods) durch die Codein-Disco tanzt oder im funky Hold The Line versucht, seine Drogensucht vor den Eltern zu verbergen. Jedenfalls nicht zwangsläufig. Wir können uns nicht sicher sein, und genau darin besteht natürlich der Reiz dieser Persona.

In Sara Jo treibt Alex Cameron dieses Prinzip auf die Spitze, zu einem umwerfenden Refrain und einem Beat, der Gemütlichkeit vortäuscht. „Who told my brother that his kids are gonna die from this vaccine?“, lautet eine Frage darin, aber es geht weniger um Corona als vielmehr um die Epidemie von Fake News und alternativen Fakten. So wie sich Künstler*innen schon immer eigene Images und Biografien, Welten und Wahrheiten erschaffen konnten, so tun es nun offenkundig immer mehr Menschen. Und natürlich weiß Alex Cameron, dass dieses Prinzip außerhalb der Kunst brandgefährlich ist, weil es die Grundlagen unseres Zusammenlebens zerstört.

Wie hellsichtig und scharfsichtig er solche Widersprüche – egal, ob auf gesellschaftlicher oder zwischenmenschlicher Ebene – benennt, ist auch auf Oxy Music wieder einmalig. Man kann das für kalt oder zynisch halten, aber es ist bloß schonungslos ehrlich. Alex Cameron nimmt weder ein Blatt vor den Mund noch scheut er die Konsequenzen seiner Aussagen, sei es ein digitaler Shitstorm oder ein analoger Fausthieb. Ein Lied wie Breakdown zeigt das exemplarisch: „I’m not myself, I am my mental health“, heißt die erste Zeile, danach wird die Versuchung thematisiert, psychische Probleme (deren Ernsthaftigkeit außer Frage steht) als Entschuldigung, Ausrede oder gar als Kern der eigenen Identität zu wählen, und noch gemeiner klingt diese für einige Zeitgenoss*innen zweifelsohne zutreffende Analyse, weil das Ganze in den lupenreinen Schönklang einer Richard-Marx-Ästhetik verpackt wird, in der auch die Subtilität seines Gesangs für einen doppelten Boden sorgt.

„It’s long on questions and short on answers (hence: plenty to think about)“, hat Nico Walker über Oxy Music angemerkt, und auch das ist unbedingt zutreffend. Die vielleicht dickste Nuss, die Alex Cameron dabei seinem Publikum zum Knacken gegeben hat, ist Cancel Culture, das vorletzte Lied des Albums, mit einem angedeuteten Reggae, einer enorm verführerischen Melodie und einem Rap von Lloyd Vines, den er in New York City kennengelernt hat. Es geht nicht um vermeintliche Sprechverbote. Die Aussage ist vielmehr: Kultur ist nur möglich, wenn man sich kultiviert verhält. Und zum kultivierten Verhalten gehört es, andere Kulturen zu erkennen und zu respektieren. Also nicht ungefragt Dinge zu übernehmen oder sich nicht zu wundern, wenn Menschen sich vom Missbrauch ihrer Kultur betroffen fühlen. Wenn wir dazu nicht in der Lage sind, können wir die Sache mit dem kultivierten Miteinander gleich vergessen, also die Kultur als Ganzes „canceln“. Es ist Alex Cameron zu wünschen, dass er möglichst viele Menschen findet, die das richtig verstehen und seine Ansicht teilen. Aber wir können nach dieser Platte auch gewiss sein: Sollte es anders kommen, ist ihm das scheißegal.

Trotz des Videos: Das K in K-Hole steht nicht für Kathedrale.

Alex Cameron bei Twitter.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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