Autor*in | Andrzej Szczypiorski | |
Titel | Die schöne Frau Seidenmann | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1986 | |
Bewertung |
Das Verhältnis des 1928 in Warschau geborenen Andrzej Szczypiorski zu seinen deutschen Nachbarn kann man wohl getrost als widersprüchlich bezeichnen. Er wächst in einem gutbürgerlichen Haushalt auf und lernt dort die deutsche Literatur zu schätzen. Als die Wehrmacht in sein Land einmarschiert, bekämpft er hingegen die Besatzer: Als Teenager nimmt er am Warschauer Aufstand teil (das Bild oben zeigt ein Denkmal für diese Widerstandsbewegung in der polnischen Hauptstadt) und wird daraufhin im KZ Sachsenhausen interniert, wo er wiederum die deutsche Sprache erlernt. Als Autor widmet er sich später intensiv der Beziehung der beiden Staaten und insbesondere der Analyse der polnischen Geschichte und des Selbstverständnisses seiner Nation (so auch hier).
Seine Analysen machen ihn in der Heimat teilweise zum gefeierten Experten, so ist er zwei Jahre lang als polnischer Presse- und Kulturattaché in Kopenhagen tätig. Vor allem sein Ringen um eine menschliche und gerechte Umsetzung des Kommunismus bringt ihn aber immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit. Er bekommt Publikationsverbote (auch dieser Roman wurde zuerst in einem französischen Exil-Verlag veröffentlicht), nach Ausrufung des Kriegszustands im Jahr 1981 wird er sogar von seinen eigenen Landsleuten für mehrere Monate eingesperrt, weil er einen unabhängigen Kulturkongress organisiert hatte. Nach der Wende wird er rehabilitiert und sitzt unter anderem für zwei Jahre im polnischen Parlament. In Deutschland ist Die schöne Frau Seidenmann, 1988 in deutscher Übersetzung erschienen, sein Durchbruch. Er wird mit Preisen geehrt und vom Publikum gefeiert. Mehr als eine halbe Million Exemplare sind mittlerweile von diesem Roman verkauft, Szczypiorski wird zum beliebten Ansprechpartner für Fragen der deutsch-polnischen Verständigung.
So ungewöhnlich wie dieser Werdegang ist auch der Roman selbst. Die Geschichte der Titelheldin baut Szczypiorski auf diesen gut 200 Seiten nicht etwa langsam auf, um Spannung, Fallhöhe oder emotionale Identifikation zu erzeugen. Stattdessen schildert er ihr Schicksal ganz lakonisch in einem einzigen Absatz: Irma Seidenman, blond, blauäugig, schlank, Ende 30, ist die Witwe des Arztes Ignacy Seidenman. Dass sie Jüdin ist, spielt in ihrem Leben keine Rolle, bis die Nazis in Warschau sind. Sie geht nicht ins Ghetto, sondern lebt inkognito mit gefälschten Papieren als angebliche polnische Offizierswitwe unter dem Namen Maria Gostomska. Sie wird von einem Juden verraten, der sie von früher kennt, und landet in den Händen der Gestapo. Nach dem ersten Verhör droht ihr die Hinrichtung. Weil sich verschiedene Personen für sie einsetzen und ihre neue Identität bestätigen, kommt sie wieder frei. Nach dem Ende des Krieges wandert sie nach Paris aus.
Der Umgang mit dieser Figur ist sehr typisch für den Stil in Die schöne Frau Seidenmann: Der Autor führt immer wieder Protagonist*innen ein und stellt sie ausführlich vor, um sie dann erst viel später wieder zum (substanziellen) Teil seiner Geschichte zu machen, oder er führt sie sogar bereits kurz nach ihrer ersten Erwähnung einem meist grausamen Schicksal zu, wie es eben in den Zeiten von Krieg, Besatzung und Völkermord besonders oft eintrat. Häufig spielt er dabei auf manchmal halsbrecherische Weise mit Zeitebenen und -sprüngen: Es gibt Vor- und Rückschauen, in denen nicht selten ein Abstand von mehreren Dekaden innerhalb weniger Zeilen überbrückt wird. Der Erzähler eilt in den Biographien der Figuren gerne schnell um Jahrzehnte voraus und ist dann wenige Sätze später schon wieder in der Gegenwart der eigentlichen Erzählzeit im Jahr 1942.
Die Botschaft dabei scheint zu lauten: Das, was in der Literatur sonst üblich ist (etwa Chronologie, Sentimentalität, Empathie), kann nicht angemessen sein für die Beschreibung einer Epoche, in der so viele Regeln außer Kraft gesetzt sind, in der so viele vermeintliche Grundfesten des menschlichen Miteinanders zerstört werden. Es geht in Die schöne Frau Seidenmann deshalb nicht um das Hoffen und Bangen, ob die Titelfigur überleben wird, ob die Guten belohnt werden für ihre Taten und die Schlechten bestraft. Der Reiz des Romans besteht vielmehr in dem virtuosen Geflecht von Personen, Beziehungen und Aktivitäten, durch die ihr Überleben letztlich möglich wird.
Auch darin scheint eine sehr klare Aussage zu liegen, zu der Szczypiorski gut 40 Jahre nach dem Nazi-Terror kommt: Er erwartet von seinen Figuren kein heroisches Verhalten, keinen übermenschlichen Mut und keine Selbstaufopferung. Er erwartet nur, dass sie im Rahmen ihrer persönlichen Möglichkeiten, in ihrem eigenen Einflusskreis, das Richtige tun. Nur, weil alle Beteiligten sich hier auf diese Weise verhalten (teils ohne dabei ihre Rolle im Puzzle der Ereignisse überhaupt zu kennen), wird Irma Seidenmann gerettet. Die Frage, die ihn – sicherlich auch durch das persönliche Erleben von zwei totalitären Regimen – umtreibt, lautet: Wenn die Welt selbst das Verbrechen, die Gewalt und das Unmenschliche zum Standard macht – wie kann das Individuum darin dennoch aufrecht und integer bleiben?
Er beantwortet diese Frage in diesem Roman meisterhaft poetisch und intelligent, und er erschafft dabei ein Panoptikum an Figuren, die fast alle als beispielhaft für die seltsamen Wendungen und Schicksale dieser Nation gelten können. Es gibt Opfer und Täter, Partisanen und Priester, es gibt Widerstand und Kollaboration, Solidarität und Verrat. Als Summe all dieser Episoden entsteht ein Mosaik, das Stärken und Schwächen anerkennt, Einzigartiges und Kontinuitäten. Typisch ist eine Szene beim Blick auf einen sterbenden Eisenbahner, der auch einen kleinen Anteil an der Rettung der Titelheldin hat: „Filipek war wohl der letzte Mensch jener Welt, Schiffbrüchiger mehrerer Kriege und Revolutionen, Häftling unter Kaisern und Despoten, Opfer der grausigen Scherze der Geschichte, vielleicht auch einer spöttischen Anekdote, die Gott der Welt erzählt und die Polen heißt.“
Als Leitmotiv erkennbar wird das Ringen um Glauben, der Halt geben soll, und von den Figuren dabei mal naiv / bäuerlich / kindlich gesucht wird, mal reflektiert / informiert / philosophisch – aber immer begleitet von der Ahnung, wie lächerlich das Konzept „Gott“ erscheinen muss angesichts des Grauens in der Welt. Auch die Reflexion der Beziehung zum Nachbarn im Westen („Im nüchternen Ehrgeiz, im unermüdlichen Streben nach der Erstrangigkeit, in allem steckt der deutsche Wahn.“) findet man immer wieder, genau wie die präzise Beobachtung des engen Zusammenhangs von Ideologie und Populismus.
Dass es dabei letztlich egal ist, welche Art von Diktatur als Besatzungsmacht auftritt, zeigt eine Szene aus dem Warschauer Stadtbild: „Wenn an dieser gewöhnlichen, dabei heiligen, weil einzigartigen und unwiederholbaren Stelle unter den Augen eines einzelnen Menschen, zu seinen Lebzeiten, im Lauf von dreißig Jahren hier abwechselnd ein Kosak und ein Preuße, ein Nazi und ein Rotarmist Wache standen, wo war dann die Muttergottes der fernen und nahen Städte, die Königin dieser Nation?! Oder hatte die Nation Schuld auf sich geladen? War sie nicht reif genug für Europa, für Asien, für sich selbst? War dieses Land nur Durchmarschgelände für fremde Heere, Hinterland der Front, Vorfeld? Letzte Schanze des lateinischen Europa, die Stirn der Steppe zugekehrt, aber gleichzeitig Abwehrschanze angesichts der germanischen Lawine? Eingeklemmter Rand der freien Welt zwischen Tyranneien? Schmaler Streifen der Hoffnung, der preußischen Hochmut von russischer Rückständigkeit trennt? Eigenständiger kleiner Fluss zwischen Grausamkeit und Heuchelei, Bestialität und Hinterlist, Verachtung und Neid, Hoffahrt und Schmeichelei, Gebrüll und Gemurmel? Grenzrain, der die Schamlosigkeit des offenen Verbrechens vom Zynismus des geheimen Verbrechens trennt? Nur ein Streifen, ein Rain, ein Rand? Und sonst nichts?“
In vielen ähnlichen Passagen von Die schöne Frau Seidenmann seziert Szczypiorski somit nichts weniger als die Diskrepanz zwischen dem ausgeprägten polnischen Nationalbewusstsein und der von Fremdherrschaft geprägten Geschichte des Landes. „Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, wo sich das Törichte und das Erhabene verflochten, der nichtswürdige Verrat mit der reinsten Selbstaufopferung. An dieser einzigen Stelle blickte die wilde, bräunliche und durchtriebene Schnauze Asiens seit undenklichen Zeiten von Nahem in die fette, anmaßende und dumme Fresse Europas, hier und nirgendwo sonst schauten die versonnenen und sensiblen Augen Asiens in die vernünftigen Augen Europas. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, wo der Westen den Osten in die Arme nahm und der Norden dem Süden die Hand entgegenstreckte“, sinniert er etwa.
Die Liebe zur Heimat spricht daraus, auch das Wissen um die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet das eigene Volk so viel historisches Leid auf sich nehmen muss. Zugleich wird aber auch ein Zweifel erkennbar: Kann man noch stolz sein, wenn man so oft zum Spielball anderer Mächte wurde? Ist es lächerlich, ausgerechnet aus dieser Geschichte eine Einzigartigkeit, womöglich eine besondere Würde abzuleiten? Nicht zuletzt: Wie viel von diesen historischen Wendungen ist unentrinnbares Schicksal, wie viel hätten die Polinnen und Polen selbst verändern können? Letztlich wird Die schöne Frau Seidenmann somit ein Aufruf zur Autonomie, auf der persönlichen Ebene ebenso wie auf der Ebene der Nation.
Bestes Zitat: „Nur der hört die Sterbenden, der zusammen mit ihnen stirbt.“