Andy Grammer – „Naive“

Künstler Andy Grammer

Andy Grammer Naive Review Kritik
Für „Naive“ passte Andy Grammer seine Arbeitsweise leicht an.
Album Naive
Label Warner
Erscheinungsjahr 2019
Bewertung

Es wäre ein Leichtes, Andy Grammer zu hassen. Erstens ist er kolossal erfolgreich (sein Debütalbum 2011 wurde ebenso mit Edelmetall ausgezeichnet wie 2014 Magazines Or Novels und 2017 The Good Parts, dazu kommen mittlerweile sechs Nummer-1-Hits). Zweitens erzielt er diesen Erfolg mit einer Musik, die schamlos alle aktuellen Wünsche von Radiohörern bedient, wie hier etwa Some Girl belegt, ein recht gewöhnliches Lied über eine angeblich sehr außergewöhnliche Frau, oder das hymnische I Found You, in dem der einstige Straßenmusiker auch noch auf die eigene Laufbahn „from zero to hero“ verweist. Drittens gibt es von ihm esoterisch-dümmlich anmutende Aussagen wie die Aufforderung an seine Fans, „ihr inneres Leuchten zu bewahren. Das ist es, was wir so dringend brauchen.“

Trotzdem kann man ihm auch auf seinem heute erscheinenden vierten Album Naive nicht böse sein. Das liegt zum einen daran, dass er sich auch hier als sehr patenter Songwriter erweist und sogar gelegentlich mutig wird. Dazu hat auch eine veränderte Arbeitsweise beigetragen, sagt der Amerikaner: „Früher haben wir die Live-Instrumente nach dem Songwriting hinzugefügt. Dieses Mal sind wir für die neuen Songs ins Studio gegangen, um alle Parts gleichzeitig einzuspielen.“

Best Of You ist rhythmisch experimentierfreudig und lässt erahnen, wie Jack Johnson mit etwas mehr Produktionsaufwand hätte klingen können. She’d Say wird eine Ermahnung zur Bodenständigkeit, in deren Zentrum die Frage steht: Was würde meine verstorbene Mutter zu meiner Tochter sagen? Als Unterstützung hat sich Andy Grammer dazu Lady Blacksmith Mambazo an Bord geholt, am Ende ist auch seine Tochter zu hören. Der Beat von Spotlight deutet schon sehr deutlich in Richtung HipHop, dann gibt es tatsächlich einen Gast-Rap von Swoope. Das hat zwar einen Beigeschmack von Zwangsheirat, geht aber insgesamt halbwegs gut. Stay There enthält ein paar elektronische Elemente, der Sänger artikuliert darin seine Vorliebe für das Einfache und wünscht sich „something forever / something naive“.

Zum anderen wird die Allgegenwart von Heiterkeit und Zuversicht hier erträglich, weil sie eben gerade nicht naiv ist, wie es diese Zeile und der Albumtitel andeuten. Wenn überhaupt, dann schafft Andy Grammer hier so etwas wie eine – auch wenn das widersprüchlich erscheinen mag – reflektierte Variante von Naivität. „Es ist wirklich nicht einfach, heutzutage glücklich zu sein. Ich gelte gemeinhin als der Strahlemann, bei dem selbst seine dunkle Seite noch in Gelb leuchtet. Ich habe in Bezug auf Menschlichkeit und das Leben im Allgemeinen immer eine rosarote Brille getragen. Natürlich ist mir bewusst, dass es auch hart da draußen zugeht, aber ich möchte einfach nicht zynisch sein. Es ist eine rebellische Geste, mir das Naiv-Sein zuzugestehen: Ich sehe die schlechten Dinge einfach nicht, wenn ich nach dem Guten Ausschau halte“, sagt der 35-Jährige.

So entstehen die typischen Momente. Die Klavierballade I Am Yours bezeichnet der Künstler selbst in einer Zeile als „another love song from a simple man“, das Ergebnis ist nicht weltbewegend, aber schön und romantisch. In First Time inszeniert er sich als bekennendes Sensibelchen, zum Abschluss der Platte outet er sich im akustischen Titelsong Naive als notorischer Optimist und Romantiker. Die Single Don’t Give Up On Me erweist sich als glaubhafter Treueschwur. „Es geht darum, nicht hinzuwerfen. Das bedeutet mir wirklich sehr viel, weil ich mir diese entschlossene Hingabe bewahren möchte. Man kann deutlich spüren, wie sich dieser Spirit durch das gesamte Album zieht“, sagt Andy Grammer.

Wenn er in Born For This die Zeile „I was born for this right here“ singt, dann ist damit die Beziehung gemeint, über die er singt, aber auch das Leben als Mann, der Liebeslieder über solche Beziehungen unter die Leute bringt, mit Massenappeal, aber ohne eine Spur von Arroganz. Dieser Überzeugung liegt ein Weg zugrunde, der durchaus ein paar Stolpersteine enthielt, nicht nur in der Karriere von Andy Grammer insgesamt, sondern auch bei der Entstehung von Naive. „Wenn Du noch unbekannt bist, ist es so unglaublich schwer, den allerersten Hit zu landen. Es zu wiederholen, wenn du bereits bekannt bist, ist sogar noch schwerer. Es ist sprichwörtlich eine Achterbahnfahrt, und als ich so darüber nachdachte, fand ich heraus, dass es irgendwie cool ist, jedes Mal einen neuen Berg zu erklimmen. Ich erkannte, dass der einzige Weg, im Gespräch und auf dem Radar der Leute zu bleiben, der ist, immer wieder den Weg zurück zu mir selbst zu finden. Und so begann ich, Schicht um Schicht abzutragen und herauszufinden, wer ich wirklich bin“, sagt der Sänger. „Das ist sehr anstrengend, denn es geht immer weniger darum, verrückte Dinge zu tun und herumzuexperimentieren, sondern darum, sich wohler mit sich selbst zu fühlen – mit meinem innersten Kern und mit dem, was mich ausmacht.“

Gerade dieser Fokus sorgt dafür, dass seine Botschaft („Ich möchte die Menschen ermutigen. Mein größtes Ziel ist es, dem Zuhörer zu erlauben, er selbst zu sein und sich besser zu fühlen.“) hier so klar hervortritt wie selten zuvor. Der Albumauftakt My Own Hero unterstreicht das, der Song klingt mit Chor und schwerem Orchester-Arrangement riesig groß. Die Frage „Do I need to be my own hero?“ lässt aber auch ein wenig Zweifel erkennen, denn er will wissen, ob er wirklich auf sich gestellt ist, oder bei der Suche nach Glück und Erfüllung vielleicht Hilfe erwarten darf.

Auch Wish You Pain deutet ein paar Schattenseiten zumindest an. „It’s hard to say“, bekennt Andy Grammer zu diesem Songtitel, aber von Boshaftigkeit ist er natürlich auch hier weit entfernt. Aus dem Wunsch spricht stattdessen die Erfahrung, die er einer aufstrebenden Künstlerin mit auf den Weg gegeben hat: Schmerz und Niederlage gehören zum Leben, und manchmal braucht man sie, um daran zu wachsen. „Ein junges Mädchen hat mich um einen Rat gebeten. Ich antwortete aufrichtig und aus tiefstem Herzen: ‚Du musst anfangen und deinen Arsch in die Hand nehmen. Wann immer sich eine Chance bietet, musst du dein ganzes Herz in diese eine Sache stecken – und du musst komplett daran zugrunde gehen.‘ Erstens wirst du so verdammt viel lernen. Zweitens hast du dann etwas, worüber du singen kannst. Du musst dir in den Hintern treten lassen. So läuft das Spiel.“

Wie gut er es beherrscht, zeigt Naive an sehr vielen Stellen, und wie wenig verachtenswert seine Message ist, bringen diese Lieder natürlich auch in Erinnerung: „Klar, wenn du mit einer optimistischen Einstellung durchs Leben gehst, glauben viele, dass du irgendwie verwirrt bist oder schlichtweg keine Ahnung davon hast, wie viel Schlechtes es in der Welt gibt. Aber ich möchte einfach eine gute Atmosphäre voller Liebe verbreiten.“

Bodenständig statt Superheld: Das gilt auch im Video zu My Own Hero.

Website von Andy Grammer.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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