Künstler | Anna Calvi | |
Album | Hunter | |
Label | Domino | |
Erscheinungsjahr | 2018 | |
Bewertung |
In Hunter, dem dritten Album von Anna Calvi, steckt so viel Sex wie in ungefähr 15 willkürlich ausgewählten Terrabyte aus dem Internet, 70.000 Seiten eines Romans von E. L. James und der gesamten Garderobe von Lady Gaga. Man müsste das für einen schamlos aggressiven Marketing-Versuch halten, wäre da nicht die Vorgeschichte der Britin mit italienischen Wurzeln, die so einen Verdacht sofort widerlegt: Die 2011 und 2013 erschienenen Vorgänger wurden jeweils für den Mercury Music Prize nominiert, auch für die Werke danach (2014 die EP Strange Weather, auf der Brian Eno, Marianne Faithful und David Byrne zu den Mitstreitern von Anna Calvi gehörten; 2017 die von ihr komponierte Musik für die Oper The Sandman) bekam sie sehr viel Lob.
Grund für all die Hormone und Körperflüssigkeiten, in denen Hunter geradezu schwimmt, ist vielmehr das Ende einer 8-jährigen Beziehung und die neue Liebe, die Anna Calvi zu einem Umzug nach Straßburg bewegt hat. „Ich zog nach Frankreich und kannte niemanden außer meiner Partnerin. Das machte es möglich, mir wirklich neu vorzustellen, wer ich war und meine Identität in Frage zu stellen. Meine Freundin ermutigte mich, mich auf eine Weise zu erforschen, wie ich es noch nie zuvor getan hatte – ich erforschte meine Lust und meine Wahrnehmung für mein Geschlecht, was ich beides schon lange unterdrückt hatte“, sagt Anna Calvi.
Gleich die ersten drei Lieder auf Hunter zeigen, wie man sich das plastisch vorstellen darf. As A Man eröffnet das Album mit einer verschwörerischen Gitarre und einer Gesangsmelodie nahe an History Repeating von Shirley Bassey. Die Frage, die Anna Calvi dazu stellt, lautet: Wie groß kann die Übereinstimmung zwischen zwei Menschen sein? Und wie viel von dem, was wohl stets als Differenz bleiben muss, geht auf das Geschlecht zurück? „If I was a man in all but my body / Oh would I now understand you completely?“, heißt das dann im Text. Der folgende Titeltrack thematisiert einen Besuch im Sexclub. Sie bringt für Hunter die Verkleidung und die Neugier mit, die dort erwartet werden, „One more taste / One more time / I open the door wide / I wanted to survive“, lautet die Ausgangssituation. „And now I want to play“, singt sie am Ende zu schmierigen Streichern und einer schroffen E-Gitarre, die wohl für Gefahr stehen soll, vielleicht auch für Schmerz.
Das folgende Don’t Beat The Girl Out Of My Boy ist etwas klarer im Rock verwurzelt und wäre etwa von Chrissie Hynde vorstellbar. „Es ist ein Lied über die Missachtung des Glücks. Es geht darum, sich frei zu identifizieren, wie man will, ohne gesellschaftliche Einschränkungen“, sagt Anna Calvi. Mit dieser maximalen Liberalität lässt sie sich in Chain von einer Verführerin auf die Rückbank eines Autos ziehen, die Musik zeigt Verwunderung, Lust und Taumel, die dadurch entstehen. „Das ist wichtig für mich“, betont die Sängerin. „Die Herausforderung, die Lust schamlos zu erleben: Das finde ich wirklich mächtig.“ Wish hat eine große Unerbittlichkeit und beträchtliche Härte, immer wieder insistiert Anna Calvi „I got one more wish before I die“, ohne uns allerdings zu verraten, welcher das ist. „I want us in the air in paradise“, singt sie in Indies Or Paradise – der Weg dahin scheint freilich über ziemlich irdische Gelüste zu führen, auch das Gitarrensolo klingt eher nach Ekstase als nach Erhabenheit.
Aufgenommen wurde Hunter in den Londoner Konk-Studios mit Produzent Nick Launay. „Wir blieben die ganze Nacht auf, wenn wir an etwas Gutem dran waren. Es war die kreativste Erfahrung, die ich je mit einem Produzenten gemacht habe“, sagt Anna Calvi über die Zusammenarbeit, die auch durch Adrian Utley (Portishead) am Keyboard und Martyn Casey (The Bad Seeds) am Bass bereichert wurde. Gemeinsam haben sie Swimming Pool, das von den Gemälden David Hockneys aus den 1960er Jahren inspiriert ist, einen schwelgerischen und eleganten Filmmusik-Charakter gegeben, der gerade durch dieses Backing zeigt, wie ergreifend ihre Stimme sein kann. Auch in Eden zum Abschluss von Hunter bekommt ihr Gesang ganz viel Raum. Sie deutet im Lied die schwierigen Momente als lesbischer Teenager zu einer Zeit purer Wonne um, in dem jede kleine Berührung, jeder intime Moment eine fast spirituelle Qualität bekommt.
„Durch den Prozess, diese Platte zu machen und diese Songs zu schreiben, fragte ich mich, ob ich mich als ‚Frau‘ mit all den Einschränkungen, die dieses Label mit sich bringt, identifizieren wollte. Aber als Mann identifiziere ich mich eben auch nicht. Neben meiner eigenen, sehr intimen Reise, auf der ich meine Wahrnehmung von Geschlecht erkundete, inspirierte mich aber auch der gesellschaftliche Diskurs zum Thema. Ich wollte ein Album schreiben, in dem die Frau als Jägerin gesehen wird, statt ihrer üblichen stereotypen Rolle in unserer Kultur als Gejagte“, erklärt Anna Calvi die Wahl des Albumtitels.
Deutlich weniger prominent als bisher setzt sie dabei ihr virtuoses Gitarrespiel ein, dafür ist es umso wirkungsvoller dort, wo es ins Rampenlicht tritt. „Ich mochte immer die Idee eines Wechselspiels zwischen meiner Stimme und der Gitarre, und ich wollte sie weiterführen, um wirklich ein Gefühl von Freiheit auszudrücken“, erklärt Anna Calvi ihren Ansatz. Away macht klar, wie das umgesetzt wird: Das Lied hat eine intime Atmosphäre, fast nur mit Gesang und dem Schrammeln der E-Gitarre. Zugleich ist es der einzige Moment auf Hunter, in dem man das „E“ in der Bezeichnung des Instruments auch weglassen könnte. Überall sonst auf dem Album spielt sie die Gitarre unter maximaler Ausnutzung der Möglichkeiten von Tonabnehmer, Verstärker, Effekten und Feedback.
Alpha ist noch so ein Lied, das wie eine 221-sekündige Gender-Studie wirkt. Der Körper ist hier angeknipst wie das Licht, das Radio oder der Fernseher. „The lights are on / the TV is on / My body is still on“, heißen die ersten Zeilen. Vielleicht darf man das als Metapher für eine Erektion verstehen, was auch die spätere Zeile „I divide and concquer“ nahelegt. Die Künstlerin selbst präsentiert eine noch weiter gehende Interpretation: „Ich frage mich, warum Stärke als eine männliche Eigenschaft angesehen wird. Ich mag die Idee des Alpha-Menschen, der gleichzeitig von Tapferkeit und Unsicherheit erfüllt ist. Ich wollte, dass sich diese Platte ursprünglich und mitreißend anfühlt.“ Das ist mit Hunter sehr gut gelungen und in Zeiten von #MeToo zugleich ungemein aktuell und nicht zuletzt politisch in der Zielsetzung, frei sein zu wollen „von allem, was jedem Geschlecht zugeschrieben wird, frei von der Sorge, wie andere mich dafür bewerten, was ich mit meinem Körper und mir tue. Für mich ist das eine ziemliche utopische Vision.“
Eine „Parental Advisory“-Warnung steht am Beginn des Videos zu Hunter.
Anna Calvi ist im November und Januar live in Deutschland zu sehen:
09.11.2018 Leipzig, Conne Island
10.11.2018 Weissenhäuser Strand, Rolling Stone Weekender
15.11.2018 Wien, Simm City
16.11.2018 Europapark Rust, Rolling Stone Park
16.1.2019 München, Freiheiz
18.1.2019 Berlin, Astra Kulturhaus
19.1.2019 Hamburg, Kampnagel
22.1.2019 Köln, Gloria Theatre