Künstler | AnnenMayKantereit | |
Album | 12 | |
Label | Irrsinn Tonträger | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Es ist nicht gerade gewöhnlich, dass eine Band, deren erste beide Alben in Deutschland die Chartplätze 1 und 2 belegt und Mehrfach-Goldauszeichnungen erhalten haben, ohne viel Aufhebens und fast ohne Ankündigung ihre dritte Platte veröffentlicht. Aber genau das haben AnnenMayKantereit mit 12 getan, das sie mit einem Livestream auf YouTube und ansonsten praktisch ohne Marketingkampagne vorgestellt haben. Noch seltener kommt es vor, dass man so eine Platte dann mit einem Wort zusammenfassen kann, das nicht anders lauten kann als: Endzeitstimmung. Denn genau das ist das Gefühl, das den neuen Liedern von Henning May, Severin Kantereit und Christopher Annen zugrunde liegt.
Natürlich ist Corona daran Schuld. Die 2011 in Köln gegründete Band wollte 2020 eigentlich ihre bisher größte Tour absolvieren, aber am 28. Februar musste in der Schweiz erstmals eine Show von ihnen Pandemie-bedingt ausfallen, eine Woche später spielten sie in Chemnitz ihr letztes Konzert des Jahres. Noch eine Woche später saßen sie „dann alle ziemlich überraschend wieder in den eigenen vier Wänden. Jeder war plötzlich allein mit der Tatsache, dass dieses Jahr anders wird. Dann kam der Lockdown. Und im Lockdown haben wir ein Album gemacht“, sagen sie. Frust und Enttäuschung nach den geplatzten Tour-Plänen prägten 12 offensichlich genauso wie die sehr besonderen Entstehungsbedingungen. „Christopher war im Proberaum, Severin im spontan aufgebauten Homestudio und ich hatte die Gelegenheit, an einem desinfizierten Klavier zu arbeiten. Inklusive Markus Ganter (unserem Produzenten) hinter einer Glasscheibe. Wir haben uns eigentlich jeden Tag zu Ideen ausgetauscht, neue Elemente diskutiert, Anhänge weitergeleitet und darüber gesprochen, wo das unfertige Lied hinwill“, sagt Henning May. Mitte Mai, nach dem Lockdown, durften sie dann wieder am selben Ort sein und haben in der Eifel weiter gemeinsam am Material gearbeitet. Nach dem ersten Hören all der entstandenen Songs sagte Severin Kantereit: „Das fühlt sich wie ein Album an.“ Auch deshalb sind die zuvor veröffentlichten Ausgehen, Ozean und Tommi nicht darauf enthalten – noch so eine ungewöhnliche Entscheidung, schließlich kommen diese drei Tracks zusammen auf rund 20 Millionen YouTube-Aufrufe.
Die Erschütterung durch Corona hat sich auf 12 aber auch inhatlich sehr deutlich ausgewirkt. AnnenMayKantereit hatten schon immer einen Blick für das Ambivalente und den Zweifel, nicht nur die Titel ihrer Alben Alles nix Konkretes (2016) und Schlagschatten (2018) beweisen das. Jetzt wird noch deutlicher, wie sehr sie mit der Positionierung des Selbst ringen, in der Zeit und in der Welt. Schon im Intro singt Henning May: „Dass viele Menschen miteinander singen / war nie eine Selbstverständlichkeit / und auf der Menschen Uhr / schlägt eine neue Zeit.“ Gleich im nächsten Lied heißt es „So wie’s war, so wird es nie wieder sein“, im bezeichnend betitelten Doppelpack Gegenwart/Gegenwartsbewältigung entfaltet sich der Reiz dieser Perspektive vollends. Man kann hier kaum anders als zu glauben: Diese Suche nach Sinn, Orientierung, Halt und Werten in einer Zeit, in der das Smartphone zur Quelle endloser Katastrophenmeldungen geworden ist, repräsentiert eine ganze Generation, ebenso wie die Hoffnung, durch der Pandemie nicht die eigene Jugend opfern zu müssen und vielleicht sogar die richtigen Schlüsse aus dieser weltweiten Krise zu ziehen. „Die Kneipen schließen, die Kinos auch“, heißt es in Gegenwart, und an diese betrübliche Zustandsbeschreibung knüpft die Frage an, ob das wirklich so schlimm ist im Vergleich zu brennenden Flüchtlingslagern. „Die Gelder fließen, die Tränen auch / woher sie plötzlich kommen, weiß niemand so genau“, schließt der Song. Im nächsten Lied heißt das Eingeständnis: „Ich habe keine Hoffnung zu verkaufen, nur Gegenwartsbewältigung.“
Mit diesem Song nimmt die Platte merklich Schwung auf, und AnnenMayKantereit bestätigen, dass das Album einem klaren Narrativ folgt: „Für uns hat es immer drei Teile gehabt – den düsteren Beginn, das Aufatmen danach und die süß-bittere Wahrheit zum Schluss.“ Zukunft ist offensichtlich der Moment, der den zweiten Teil einleitet. So schwer die inhaltliche Kost hier weiterhin ist, so leicht klingt der Beat. Vergangenheit gleicht das, was man sich erhofft/vorgemacht hat, mit dem ab, was bleibt, wenn man es nüchtern und kühl betrachtet. Der mediterrane Flair im Refrain von Spätsommerregen wirkt fast zynisch angesichts des Texts über die Rolle als Gefangener des Lockdowns. Das rätselhafte Warte auf mich (Padaschdi) handelt vielleicht von unerfülltem Fernweh, die erste Strophe von Paloma singt Henning May auf Spanisch und zeigt auch danach, was er als Sänger drauf hat.
„Wir wünschen uns, dass dieses Album am Stück gehört wird. Die Reihenfolge der Lieder hat für uns Bedeutung, und wer so großzügig ist, sich das Album auch in dieser Reihenfolge anzuhören hat einen gepolsterten Sitzplatz in der Mehrzweckhalle unserer Herzen. Hoffentlich bis bald. Hoffentlich“, sagen AnnenMayKantereit. Aufgeregt blickt passend dazu mit einem überraschend kraftvollen Beat und einem Hauch von Ausgelassenheit auf die kleinen Freunden, die durch Corona so besonders geworden sind (eine persönliche Begegnung, ein Besuch bei den Eltern, ein Date). Ganz egal könnte eine niedliche Liebeserklärung sein, das Outro erweist sich als verspielter Abschied mit erstaunlicher Leichtigkeit. Doch auch das letzte Drittel des Albums ist keineswegs ungetrübte Vorfreude auf die Zeit nach der Pandemie, in der nicht nur Konzertreisen wieder möglich sein sollten, sondern vielleicht auch sonst wieder alles so sein wird, wie es uns vertraut ist. Die letzte Ballade grübelt rund um die Frage „Worüber würde ich singen / wenn es niemanden mehr interessiert?“ über den Wert der eigenen Kunst und ihr Potenzial, etwas zu bewegen. So laut so leer ist ursprünglich im Sound und grundsätzlich in der Perspektive, die Erkenntnis in Das Gefühl lautet: Nostalgie kann Trost sein, aber auch alles noch schlimmer machen.
An ganz vielen Stellen weiß diese Platte um die eigene Eitelkeit, würde sie sich gerne verbieten und erkennt doch an, dass sie unentrinnbar ist. Die größte Stärke von 12 ist aber, wie gekonnt diese Lieder die Erschütterung einfängt, die Corona ausgelöst hat. Das prägende Gefühl hier ist, dass sich etwas sehr Grundsätzliches geändert haben könnte, auch wenn sich noch nicht genau benennen lässt, was das alles umfasst.