Künstler | Arcade Fire | |
Album | Everything Now | |
Label | Columbia | |
Erscheinungsjahr | 2017 | |
Bewertung |
Unfassbar viel Mühe haben sich Arcade Fire gegeben, um bei der Anbahnung ihres fünften Albums auf die Allgegenwart von Vermarktung und Kommerzialisierung hinzuweisen. Die Kanadier haben provoziert, persifliert, falsche Fährten gelegt. Man kann fast von einer Desinformations-Kampagne sprechen, mit der die Band die Prinzipien von Beliebigkeit, Overkill und Turbomoderne lächerlich machen wollte. Dazu gehörten ein Twitter-Account, der wie ein russischer Chatbot aussehen sollte, Anagramme der Songtitel, die dort kurz vor Erscheinen von Everything Now verbreitet wurden, mysteriöse Livestreams, ausgedachte Marketingmitarbeiter, erfundene Plattenkritiken und mehrere Fake-Websites.
Böse formuliert, könnte man auch die Musik selbst dort einreihen. Es wirkt, als hätten Arcade Fire zum Zwecke der maximalen Irritation erstmals ein schlechtes Album gemacht. Der Grund dafür ist nicht, dass sie, wie schon beim Vorgänger Reflektor, weniger nach opulentem Folkrock klingen wollen, sondern mehr nach Club, schwarz und funky, und dafür die Produzenten Thomas Bangalter (Daft Punk) und Steve Mackey (Pulp) angeheuert haben, unterstützt vom langjährigen Mitstreiter Markus Dravs sowie Geoff Barrow (Portishead) und Eric Heigle. Es liegt daran, dass sie all die eingangs erwähnten Phänomene kritisieren, aber aus einer Perspektive der Überheblichkeit heraus. Und es liegt daran, dass die Ideen für die Musik von Everything Now nicht halb so originell sind wie die Einfälle zur Anti-Vermarktung.
Es ist natürlich nicht so, dass Arcade Fire, aktuell ein Septett, keine guten Songs mehr hinbekommen hätten. Peter Pan zeigt das mit einer seltsamen Schönheit, als hätte jemand die DNA von Vampire Weekend ein bisschen durcheinander gebracht. Creature Comfort (es geht darin um die Sehnsucht nach Anerkennung durch Social-Media-Aufmerksamkeit, die einen jungen Menschen in den Selbstmord treibt, als sie ausbleibt) wird energisch und eingängig im Stile der Shout Out Louds. Das von Régine Chassagne gesungene Electric Blue ist dezent elektronisch, schick, luftig und elegant wie es Blondie in ihrer Blütezeit waren. We Don’t Deserve Love wird zum intimsten Moment auf Everything Now und macht die Demut auf sehr behutsame Weise hörbar, die in der Zeile „Maybe we don’t deserve love“ steckt.
Viele andere Tracks sind durchwachsen. Der Reggae von Chemistry ist zuerst reizvoll, aber mindestens zwei Minuten zu lang, bei Put Your Money On Me ist es umgekehrt: Der Song wirkt zunächst arg leichtgewichtig, erst dann entsteht Spannung, sogar Bedrohlichkeit. Good God Damn sieht die Möglichkeit eines guten Gottes, sollte es ihn wirklich geben, als Bedrohung an, zu einem für die Verhältnisse dieser Band viel zu aseptischen Sound. In Signs Of Life versucht sich Frontmann Win Butler zu Seventies-Funk wieder einmal an Sprechgesang. Das Lied zeigt: Früher haben Arcade Fire hier eine Atmosphäre aufgebaut, heute verlieren sie sich in Soundspielereien.
Dieser Vergleich ist entscheidend, denn auch auf Everything Now stellen Arcade Fire die Risiken und Fehlentwicklungen unserer Zeit in den Mittelpunkt ihrer Songs und reagieren darauf mit Zweifeln, Pessimismus und Angst. Man kann das Kulturpessimismus nennen, aber wie schon früher setzen sie diesem Bedrohungsszenario die Aufforderung entgegen, kritisch zu sein, am besten als Gemeinschaft. Anders als bisher gelingt es aber nicht mehr, den Hörer dabei einzuschließen. Arcade Fire sind hier kritisch mit der Welt, vor allem aber mit ihrer eigenen Welt, ihrer Branche, ihrer Musik, ihrer Biographie. Sie verweigern sich der Möglichkeit, für ihr Publikum zum Erlöser zu werden. Das ist natürlich ein ehrlicher und aufgeklärter Umgang mit dem eigenen Status, trotzdem verliert Everything Now dadurch erheblich an Reiz, Identifikationspotenzial und Wärme.
Dass der Titelsong gleich in drei Varianten zu finden ist, illustriert diesen Effekt sehr gut. Everything_Now (Continued) eröffnet das Album mit Fokus auf dem Gesang von Win Butler, am Ende dann etwas kakophonisch. Der Track geht über in Everything Now, wo ein sonniger Discobeat und die simple Klaviermelodie auf ironische Weise klingen, als würden ein paar Animateure versuchen, Abba für ihre Pauschalurlaub-Gäste zum Leben zu erwecken. Am Ende betont Everything Now (Continued) mit echten Streichern noch einmal, wie schön dieses Leitmotiv auch klingen kann. In zwei Inkarnationen gibt es auch Infinite Content: Ohne Unterstrich ist das Punk, der eher entschlossen als wild und dreckig daherkommt, mit Unterstrich schlüpft der Song in ein Countryrock-Gewand. Darin offenbart sich das Dilemma der Platte: Gerade diese verschiedenen Varianten desselben Tracks zeigen eine Gewöhnlichkeit und Beliebigkeit, gegen die Arcade Fire mit Everything Now eigentlich ansingen wollten.