Archive, Werk 2, Leipzig

Acht Leute auf der Bühne: Sie alle tragen zur Wucht bei.
Acht Leute auf der Bühne: Sie alle tragen zur Wucht bei.

Ich muss gestehen: Ich bin nicht sonderlich vertraut mit der Musik von Archive. Ich besitze drei Alben der Band aus London. Eins davon finde ich kacke (With Us Until You’re Dead), eins davon finde ich spannend (Restriction), eins davon habe ich bisher nie angehört (Lights).

Ich muss zudem gestehen: Ich habe keine übergroße Lust auf dieses Konzert in Leipzig. Erstens ist Montagabend. Zweitens hatte ich in den vergangenen Tagen schon genug sehr gute und auch ein bisschen weniger gute Livemusikunterhaltung, es ist das vierte Konzert innerhalb von acht Tagen für mich. Drittens habe ich einen mörderischen Schnupfen mit einem Durchschnittsverbrauch von 1,2 Packungen Taschentücher pro Stunde – auch keine ideale Voraussetzung für einen gelungenen Konzertabend.

Aber ich bin trotzdem da, schließlich bin ich eingeladen, außerdem habe ich es meiner Begleitung versprochen. Und während ich vor dem Werk 2 auf eben diese Begleitung warte, werde ich dann doch ein bisschen neugierig auf die anstehende Show. Denn die Leute, die dort eintreffen, sind erstaunlich bunt gemischt. Es gibt ältere Ehepaare, Kids in Festival-T-Shirts, Gruftis und Bikerbräute. Was eint all diese Menschen, jenseits von einer (interpretiert man den Duft vor und in der Halle) ausgeprägten Vorliebe für Cannabis-Konsum? Was bietet die Musik von Archive, das sie alle anspricht?

Noch eine Frage drängt sich mir auf, als meine Begleitung eingetroffen ist, wir uns dem Eingang nähern und mir klar wird, dass Archive tatsächlich in der Halle A des Werk 2 spielen, nicht etwa auf einer der kleineren Bühnen. In dieser Halle habe ich zuletzt die Sportfreunde Stiller gesehen (höchste Chartposition in Deutschland: Platz 1), Madsen (höchste Chartposition: 2) oder The Kooks (höchste Chartposition: 6). Heute füllen Archive diese Halle, deren bisher erfolgreichstes Album hierzulande gerade einmal Platz 35 erreicht hat, und das auch schon vor drei Jahren. Irgendetwas müssen die Londoner in ihren Konzerten also bieten, das weit über die Anziehungskraft ihrer Platten hinaus geht und ziemlich dauerhaft begeistert. Was das ist, würde ich liebend gerne herausfinden. Als es losgeht, bin ich fast so gespannt wie die Haut unter meiner triefenden Nase.

Die Antwort liefert die Show (nach dem 40-minütigen Film Axiom, der ebenso wie das Konzert deutlich macht, wie wichtig die Optik bei Archive ist und zudem unterstreicht, dass es eine historisch kluge Idee war, Kinosäle nicht mit Stehplätzen zu konzipieren) dann schnell: Die Musik von Archive ist auf den ultimativen Effekt aus, und der ist auf der Bühne eben noch wirkungsvoller als auf Platte.

Das gilt für die vier Momente im Auftakt Feel It, die für Uneingeweihte wie des Ende des Songs wirken könnten, dann aber stets doch nur Pausen sind. Das gilt für das Monster-Schlagzeug, das nach dem zweiten Refrain von Kid Corner einsetzt. Ebenso wie für den Kashmir-Beat, der You Make Me Feel antreibt, das Klavier-Crescendo in Dangervisit oder den plötzlichen A-Capella-Moment in Ruination.

Nach spätestens einer halben Stunde ist auch mir klar: Das ist Musik für Leute, die Knöpfchendreher mögen und Gitarrenbretter, Massive Attack und Sepultura. Und Songs wie das intensive Nothing Else (nur mit Gitarre und dem Gesang von Holly Martin), das furiose Bullets oder die epische Zugabe Lights sind zweifelsohne packend.

Beeindruckend ist dabei, wie vollkommen exakt die insgesamt acht Leute auf der Bühne ihre Musik spielen, auch dann noch, wenn die Musik bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Passage mit Jam-Session-Charakter wirkt. Archive agieren in Leipzig mit maximaler Ernsthaftigkeit, und das meint nicht nur die Bedienung der Instrumente, sondern auch die Mimik. Die Gesichter der Band sind für diesen Abend eine spaßbefreite Zone. Bassist Steve Davis schaut knapp zwei Stunden lang drein, als plage ihn eine schlimme Verstopfung, Gitarrist/Sänger Pollard Berrier macht den Eindruck, seine Mutter sei gerade gestorben, sein Counterpart Dave Pen scheint unbedingt einen Tiefgründigkeitswettbewerb mit Thom Yorke gewinnen zu wollen. Und Holly Martin kommt bei ihren ersten Auftritten auf die Bühne, als trete sie vor ein Erschießungskommando.

Sie ist nur für etwa ein Drittel des Konzerts zu sehen, auch die anderen Musiker haben gelegentlich so wenig zu tun, dass man sich fragen kann, wozu Archive eigentlich acht Leute mit durch halb Europa schleppen müssen. Schlagzeuger Smiley verlässt zwischendurch die Bühne für einen Plausch mit dem Mann, der die Videoprojektionen im Werk 2 betreut. Keyboarder Darius Keeler hat die linke Hand fast immer frei und nutzt sie, um entweder Moves wie ein Drill Instructor zu zeigen, ein imaginäres Orchester in seinem Kopf zu dirigieren oder unsichtbare Maracas zu spielen. Auch der zweite Tastenmann, Danny Griffiths, braucht meist nur fünf Finger und könnte während des Konzerts im Werk 2 mit der rechten Hand problemlos ca. 420 Autogramme schreiben (wenn jemand Autogramme von Keyboardern würde haben wollen).

Aber natürlich tragen sie alle dazu bei, den Sound von Archive so dicht, vielschichtig und mächtig zu machen. Überraschend ist, wie wenig Effekt dieses Streben nach dem ultimativen Effekt hat. Die Reaktion des Publikums in Leipzig beschränkt sich selbst in den vordersten Reihen meist auf euphorisches Kopfnicken. Ich habe am Ende von End Of Our Days immerhin Tränen in den Augen. Das kann aber auch vom Schnupfen kommen.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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Ein Gedanke zu “Archive, Werk 2, Leipzig

  1. Eine Rezension der anderen Art… amüsant…

    Aber: über Danny Griffiths (als einen der beiden Köpfe von Archive!) zu schreiben: „wenn jemand Autogramme von Keyboardern würde haben wollen“ spricht nicht gerade für eine tiefgründige Recherche zur Struktur des „Kollektivs“

    und Archive mit Sepultura zu vergleichen, ist auch etwas zu viel des Guten…

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