Austra – „Hirudin“

Künstler Austra

Austra Hirudin Review Kritik
Der Neubeginn steht im Zentrum von Austras „Hirudin“.
Album Hirudin
Label Domino
Erscheinungsjahr 2020
Bewertung

Nicht nur die Schreibweise ist eigenartig beim Titel des vierten Albums von Austra, sondern auch der Name an sich. Katie Austra Stelmanis erläutert gerne, warum sie diese Wahl getroffen hat: „Ich habe etwas über Blutegel gelesen und dabei erfahren: Wenn sie dein Blut aussaugen, setzen sie zugleich ein Peptid namens Hirudin frei, das der stärkste Gerinnungshemmer der Welt ist. Obwohl die Blutegel also als Parasiten betrachtet werden, können sie auch etwas zur Heilung beitragen. So ist es auch mit toxischen Beziehungen. Sie geben dir die Möglichkeit zu wachsen und etwas über dich selbst zu lernen.“

Die Parallele zur eigenen Biografie lag für sie auf der Hand. Im Gegensatz zum Vorgänger Future Politics sind die Themen diesmal viel privater und kreisen vor allem um toxische Beziehungen und ihre Wirkungsweisen. „Ich hatte das Vertrauen in meine eigenen Ideen verloren“, beschreibt die Sängerin ihre Ausgangssituation. Die Reaktion darauf war vergleichsweise radikal: „Meine kreativen und persönlichen Beziehungen waren sehr eng miteinander verwoben. Deshalb wusste ich, wie die Antwort lauten musste: Ich musste all die Leute und all den Komfort hinter mir lassen, der mir rund ein halbes Jahrzehnt lang lieb geworden war, und ganz von vorne anfangen.“

Die erste neue Maßnahme war deshalb ein auf den Kopf gestellter Ansatz bei der Arbeitsweise. Hatte Katie Stelmanis bisher für Austra fast alles alleine gemacht, arrangierte sie diesmal drei eintägige Sessions mit Musikern, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Mit dem dort entstandenen Material zog sie sich dann in ein Studio in Spanien zurück. “Ich habe gemerkt, dass ich die Rolle als Produzentin sehr genieße. Ich hatte diesen Fundus aus sehr unterschiedlichen Teilen, die mit sehr unterschiedlichen Leuten entstanden waren. Ich konnte sie frei anordnen und spürte eine große Kraft durch die Überzeugung, genau zu wissen, wie das Ergebnis klingen sollte”, sagt sie.

Die zweite Neuerung bei Hirudin ist, dass auch nach dieser ersten Phase externe Inspiration angezapft wurde. Erstmals sind externe Co-Produzenten dabei, nämlich Rodaidh McDonald (The XX, Sampha, Savages) und Joseph Shabason (The War On Drugs, Destroyer, Diana). Die weiteren Gäste sind Casey MQ (Produktion), C_RL (Keyboards, Percussion), Kamancello (Streicher) und die fünfköpfige philippinische Girlband Pantayo. Und nicht zuletzt Cecile Believe (Sophie), die als Sängerin bei Mountain Baby zu hören ist, das sie auch mitgeschrieben und -komponiert hat. Der Song wird mit einem HipHop-Beat, einer einfachen Klavierfigur und einem Kinderchor der eingängigste Moment des Albums.

Sonst dominiert bei Austra natürlich wieder die klassisch ausgebildete Stimme von Katie Stelmanis. Das beginnt im Auftaktsong Anywayz, der Distanz und Nähe thematisiert und dabei mehrfach seine Gestalt ändert, und reicht bis zum Schlusspunkt Messiah, in dem sie (einen Partner, vielleicht auch das Publikum, womöglich sogar sich selbst) davor warnt, sie mit Erwartungen zu überfrachten. „I’m not your answer / I can’t be your escape“, singt sie. Diese Selbsterkenntnis, zu der das Eingeständnis gehört, fehlbar zu sein, prägt Hirudin. Im recht klassisch instrumentierten All I Wanted kündigt sie einen Schlusspunkt an, weil keinen Spielraum mehr für Diskussionen, Nachgeben oder Verzeihen gibt. „It doesn’t matter what you say to me / ‘cause I’m leaving tomorrow“, heißt die zentrale Zeile. Darin steckt ein sehr klarer Blick auf Betrug und Enttäuschung, aber auch auf die eigene Sehnsucht, dass es vielleicht doch hätte anders laufen können, dass man zumindest gerne verstehen würde, was falsch gelaufen ist – und was man womöglich auch selbst dazu beigetragen hat. „Als ich das endgültige Tracklisting zusammengestellt habe, wurde mir klar, wie sehr die Songs das reflektieren, was ich durchgemacht habe“, sagt Katie Stelmanis. „Diese Unsicherheit in einer toxischen Beziehung, das Ausbrechen daraus und dann die Heilung.“

Ein sehr ähnliches Thema hat I Am Not Waiting: „I am a mountain grown out of what you fabricated / I’m over you“, heißt es darin, die Musik ist genauso auf den Punkt wie diese Verse, dazu tanzbar und hypnotisch. It’s Amazing packt das Bekenntnis von Angst und die Suche nach Anerkennung in einen sehr stimmungsvollen, großen Sound, der Song wird entsprechend atmosphärisch dicht und mündet in ein hoch spannendes Finale. Die ersten Zeilen in Your Family klingen, als seien Austra ins Storyteller-Genre gewechselt, danach wird es allerdings schnell abstrakt und experimentell.

Risk It besingt die Angst davor, eine Beziehung zu beenden, es gibt darin einen komplexen, aber dezenten Beat und die für Hidurin immer wieder gerne genutzten Stimmeffekte. Vor allem aber ist diese Lead-Single ein Beispiel für die sehr feinen Melodien dieser Platte. Sie entfalten sich auf Hidurin – in diesem Song und jenseits davon – oft sehr frei über dem Beat, kaum gebändigt von Struktur oder Akkorden. How Did You Know? ist komplex, elegant und einer der intensivsten Momente des Albums, vielleicht auch deshalb, weil sich in diesem Lied nach all dem Rückblick auf gescheiterte Beziehungen eine neue Liebe andeutet. Das passt wohl bestens zum Charakter der neuen Inkarnation von Austra, wie Katie Stelmanis sagt: „Es war sehr befreiend und zugleich ein riesiger Lernprozess, mit so vielen verschiedenen Leuten zu arbeiten. Es hat mich neu belebt.“

Das Video zu Anywayz inszeniert ebenfalls den Wunsch nach Ausbruch.

Website von Austra.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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