Wenn es spätabends überall nach Urin riecht, wenn Schnapsleichen dort liegen, wo vor ein paar Jahren noch Urlaubsträume wahr wurden und wenn die Erinnerung an eine Katastrophe eine wichtige Rolle spielt, dann sind das nur selten Indizien für eine erfolgreiche Veranstaltung. Beim Berlin-Festival war das aber so.
Auf der Rückreise vom Ostsee-Urlaub habe ich dort Zwischenstopp gemacht. Und die Hauptstadt bewies an diesem Wochenende eindrucksvoll, dass sie auch Festival kann. War das Berlin-Festival bei seinem Debüt im Vorjahr noch als etwas klinisch wahrgenommen worden, gab es diesmal kaum noch Spuren von Retorte. Dazu trugen nicht nur die mehr als 20.000 Besucher bei, sondern auch die sehr stimmige Integration ins Programm der Popkomm samt der damit einhergehenden (auf Dauer aber etwas schwer zu ertragenden) iPhone-, Twitter- und Coolnessfülle im Publikum.
Das leicht veränderte Gelände am ehemaligen Flughafen Tempelhof inklusive einer zusätzlichen dritten Bühne, das gelungene Programm mit nach wie vor relevanten alten Helden (Edwyn Collins, Gang Of Four, Wedding Present), den heißesten aktuellen Acts (Hot Chip, Robyn, We Have Band) und ein wenig Lokalkolorit (die Wahl-Berliner Peaches und Gonzalez) sowie das wunderbare Wetter mit einem Regenbogen am Freitag und viel Sonne am Samstag: All das sorgte für echte Festival-Atmosphäre beim nach eigenem Bekunden „Festival für Leute, die keine Festivals mögen“.
Trotzdem ist am Flughafen Tempelhof noch Luft nach oben: Es gab beispielsweise deutlich zu wenige Toiletten, und das sage ich als Mann, der in dieser Hinsicht ja anatomisch bevorteilt ist (und trotzdem abgeneigt, einfach irgendwo hinzuschiffen). Auch die Wege zwischen den beiden Nebenbühnen in den Hangars 4 und 5 hätten kürzer sein können.
Und dann war da ja noch das Sicherheitsproblem: Das Konzert von 2ManyDJs wurde am späten Freitagabend vorzeitig abgebrochen, weil zu viele Besucher in Richtung der Bühne strömten, nachdem das Programm auf der Hauptbühne beendet war. Vor den Einlassschleusen am Hangar 4 stauten sich nach Angaben der Organisatoren die Besucher. Auch wegen der noch frischen Erinnerung an die dramatischen Szenen bei der Loveparade in Duisburg gingen die Veranstalter ganz auf Nummer sicher: Gegen 2.30 Uhr wurden die Show und der gesamte restliche Festival-Tag abgebrochen, obwohl Headliner Fatboy Slim noch gar nicht aufgetreten war.
«Der Abbruch war eine überaus harte Entscheidung, die manche für übervorsichtig halten mögen», räumten die Organisatoren ein. Aber «mit Duisburg im Hinterkopf» habe man verhindern wollen, dass es zu Verletzten kommt, sagte Sprecher Sven Städtler. Letztlich nachvollziehbare Argumente – auch wenn man den Veranstaltern vorwerfen muss, dass man hätte ahnen können, dass nach dem Ende der Shows auf der Hauptbühne nicht plötzlich alle Besucher zur U-Bahn, zur ebenfalls stattfindenden Club Nacht oder schlicht nach Hause gehen, wenn auf den Nebenbühnen noch attraktive andere Acts auftreten (für die man ja schließlich auch bezahlt hat).
Zudem mehrten sich tags darauf Gerüchte, der Abbruch hätte nicht nur mit der Angst vor einer Massenpanik zu tun, sondern auch mit Lärmschutzproblemen. Dazu passt zumindest auch die Entscheidung der Veranstalter, das Programm am Samstag einzudampfen. Rund zehn Acts fielen komplett aus, Auf sämtlichen Bühnen war gegen 23 Uhr Schluss. Eigentlich sollte die Party in Tempelhof erst um 6.30 Uhr zu Ende gehen. Ich bin dem Verdacht nachgegangen, zumindest die Berliner Polizei wiegelt aber ab. Bis heute Mittag war dort über eventuelle Beschwerden von Anwohnern «nichts bekannt». Die Lärmschutzproblematik insbesondere auf der Hauptbühne sei vom Veranstalter bereits vor Beginn des Festivals berücksichtigt worden.
Doch auch in abgespeckter Form gab es genug zu sehen. Vor allem führten die beiden Tage noch einmal gut vor Augen, dass Musikfestivals heutzutage wie das Fernsehen mit Fernbedienung funktionieren: Wenn das Programm langweilt, schaltet man um. Keine Probleme mit einer derart kurzen Aufmerksamkeitsspanne hatten Fever Ray, die mit ihrer gewohnt originellen, mysteriösen Show faszinierten. Ihre schwedische Landsfrau Robyn hatte sich in Bomberjacke (eine Reminiszenz an den Flughafen?) und Tarnfarben-Leggins gehüllt und fiel am Freitagabend in die Rubrik: zurückspulen, unbedingt noch mal erleben! Editors aus Birmingham, die mit ihrem düsteren Rock den Abschluss auf der Hauptbühne machten, begeisterten ihre Fans ebenfalls. Ich kann insbesondere mit der Stimme von Tom Smith zwar nach wie vor nichts anfangen, aber für alle, die drauf stehen, waren die Editors wohl ein klarer Fall von: lauter drehen!
Am zurechtgestutzten Samstag hatten Gang Of Four dann sichtlich Probleme, das Publikum vor der Hauptbühne bei Laune zu halten. Dass man irgendwann einmal sehr einflussreich war, reicht eben nicht, um im Hier und Jetzt zu begeistern. Die charmanten Münchner von Lali Puna hatten derweil mit der Technik zu kämpfen, Peaches schaffte es unterdessen, unter all den Trendsettern für Aufsehen zu sorgen mit einer Lasershow, die sie gebraucht von Coldplay gekauft zu haben scheint, die damit schon vor sieben Jahren auf Tour waren.
The Morning Benders brachten aus Kalifornien nicht nur die Sonne mit, sondern auch sehr sympathischen Rock und zum Abschluss ihrer Show ein bisschen A-Capella-Gesang in bester Beach-Boys-Manier. Danach entschuldigten sie sich, dass sie wegen des gekürzten Zeitplans nicht länger spielen konnten, versprachen aber, bald wieder nach Deutschland zu kommen und das Verpasste nachzuholen. Für alle, die The Morning Benders beim Berlin-Festival gesehen haben, kann man schon jetzt die Prognose treffen: die schalten dann wieder ein.
Trip-Hop-Pionier Tricky lud hingegen allenfalls zum Vorspulen ein: Er zog fast alle Stücke mit vielen Soli und ungewohnt hohem Gitarren-Anteil künstlich in die Länge. So gab es im Publikum zwei Gruppen: eine sehr kleine Gruppe, die wild tanzte (bekifft). Und eine sehr große Gruppe mit enttäuschten Gesichtern (nicht bekifft). Kein Wunder: Der Anteil des Meisters an seiner eigenen Show beschränkte sich oft darauf, ein paar Mikrofone zu zerstören, permanent irgendetwas Negatives auszustrahlen und auf der Bühne Joints zu rauchen. Das finden wohl höchstens noch Leute rebellisch oder gar innovativ, deren Geburtsjahr mit den Ziffern 199 anfängt. Müsste man die Show mit einem Wort zusammenfassen, dann hieße dieses Wort: lächerlich. Weiterer Minuspunkt: Die Musik von Tricky klingt nicht nur wie der neueste Trend des Jahrs 1995, seine Fans scheinen auch weiter in diesem Jahr zu leben und noch nichts vom Nichtraucherschutzgesetz gehört zu haben. Das stinkt.
Auf der Hauptbühne gab es am Samstag auch noch zwei absolute Höhepunkte: Soulwax führten vor Augen, dass die Hits, zu denen man im Club am liebsten tanzt, auch in der Abenddämmerung im Freien für viel Euphorie sorgen können. Und Hot Chip, deren Show der krönende Festival-Abschluss wurde, weckte in mir sogar kurz das Bedürfnis, eine ähnlich alberne, verspiegelte Baseballmütze zu tragen wie Sänger Alexis Taylor. Der verblüffte nicht nur mit einer auch live sehr vorzeigbaren Gesangsstimme, sondern auch mit viel Showtalent (als er beim grandiosen Over And Over kurz die Mütze abnahm, warf er sie aber leider nicht ins Publikum) sowie feinem Gespür für Pop, irren Sounds und unwiderstehlichen Rhythmen. Daran hatten die Londoner selbst offensichtlich genauso viel Spaß wie ihr Publikum. So muss es sein.
Da nach dem Urlaub meine Kamera-Batterien leer waren, gibt es diesmal kein eigenes Video vom Berlin-Festival. Dafür aber Eindrücke aus Tempelhof:
httpv://www.youtube.com/watch?v=hGSdtDl404g