Nicht nur der Finanzminister weiß: Entscheidend ist manchmal gerade das, was fehlt. Auch beim Berlin Festival 2012 spielt das Wörtchen „ohne“ eine große Rolle. Das zweitägige Festival am Flughafen Tempelhof ist beispielsweise eines der wenigen deutschen Festivals, das ohne Camping und ohne Parkplatz auskommt, sich dank reduzierter Lautstärke guten Gewissens ohne Gehörschutz erleben lässt und ohne übercoole Aktionen wie ein Art Village, einen Poetry Slam und, ganz groß, einen Autoscooter eben nicht vollständig wäre. Deshalb machte ich mich für meine Bilanz des Samstags beim Berlin-Festival auf die Suche nach dem entscheidenden „ohne“.
Künstler: Crocodiles
Wären ohne Oasis undenkbar
Das Duo mag sich sonnen in dem coolen Ruf, zu den Speerspitzen der kalifornischen Noisepop-Szene zu gehören. Was die Crocodiles in Berlin hinlegten, hatte aber wenig mit Trend, Hype oder Moderne zu tun, sondern ließ eher an klassischen Rockrock denken, samt der dazugehörigen Lederjacken und Sonnenbrillen. Ganz am Schluss klang das auf der Zippo Stage sogar nach Oasis. Ein sehr willkommener Start in den Festival-Tag.
Künstler: Cro
Rapper ohne besondere Kennzeichen
Senkrechtstarter Cro hatte schon mit seinem Debütalbum Raop den Verdacht nahe gelegt, dass sein Erfolg gerade darin bestehen könnte, dass er so normal ist. „Normal“ bedeutet in diesem Fall: mit Lust auf Party, Geld und Frauen, mit dem Wunsch nach Harmonie. Es bedeutet aber auch: ungefährlich, unpolitisch, unspektakulär.
Der Auftritt des Stuttgarters beim Berlin Festival bestätigt das: Die Stimmung ist bestens, aber so etwas wie Entertainer-Qualitäten oder gar Charisma lässt Cro gänzlich vermissen. Auch die Maske steht hier nicht für ein Alter Ego, sondern ist letztlich bloß ein Gimmick, um diesen Typen überhaupt halbwegs interessant zu machen. Das ist allerdings kein Problem – dasselbe ließe sich über die Fantastischen Vier oder Fettes Brot sagen, ohne dass es ihrem Spaßfaktor geschadet hätte. Oder ihrem Erfolg.
Künstler: Django Django
Klingen wie Hot Chip ohne Refrains
Die vier Briten absolvieren beim Berlin Festival ihren ersten Auftritt überhaupt in Deutschland. Das wirkt zunächst arg bedenklich, denn was Django Django veranstalten, könnte man gut auch für einen Regentanz halten, den irgendwelche Schlagzeugvölker zur Beschwörung ihrer Götter zelebrieren – und nach dem unerfreulichen Wetter am Freitag muss das wirklich nicht sein. Nach ein paar Minuten haben sich Band und Publikum aber eingegroovt (und die Hoffnung, dass es im Tempelhof trotzdem trocken bleibt, erfüllt sich dann im weiteren Verlauf des Abends auch). Die Songs vom gefeierten Debüt Django Django klingen dann wie Hot Chip ohne Refrains – was besser ist als gedacht.
Künstler: Kimbra
Wäre ohne ihr Kleid völlig belanglos
Es gibt ein paar Momente, da kann einem die allgegenwärtige Coolness des Berlin Festivals mächtig auf die Nerven gehen. Solche Momente, in denen Menschen die Tätigkeiten Rauchen, Hüpfdrängeln und Twittern (schon für sich betrachtet alle bedenklich) in traumwandlerischer Kombination vollführen. Solche, in denen beschlossen wird, dass ein Festival sich zwar ökologisch korrekt geben soll, man aber dazu auf dem Gelände noch lange keine Mülleimer braucht. Und solche wie die Show von Kimbra, bekannt in erster Linie für ihre Mitwirkung am Gotye-Track Somebody That I Used To Know. Die Neuseeländerin macht völlig sinnlose, langweilige, uninspirierte Musik. Das einzig Nennenswerte an ihrer Show ist ihr Kleid, das Lametta und Frischhaltefolie kombiniert. Immerhin tröstlich: In zwei Jahren wird Kimbra vergessen sein.
Künstler: Bonaparte
Wären auch ohne ihre neuen Kostüme ein Highlight
Egal, wie oft man Bonaparte schon live erlebt hat: Die Show der Zirkusagitatoren ist jedes Mal aufs Neue ein Spektakel. Fürs Berlin Festival 2012 hat sich das Bonaparte-Kollektiv neue Kostüme geleistet, zu denen unter anderem eine Feder-Laub-und-Fluch-der-Karibik-Jacke für Sänger Tobias Jundt gehört. Der füllt seine Rolle als Partykaiser weiterhin so gekonnt aus, dass man ihn in der Liste der besten Schweizer Exportschlager gerne über Schokolade, Steuersünder-CDs und Lucien Favre platzieren kann. Zum Schluss des Konzerts gibt es eine Sektdusche, die sich Band und Publikum redlich verdient haben.
Künstler: Kraftklub
Famos ohne Einschränkung
In Sachen skurrile Momente haben mich Kraftklub ja schon beim Highfield überzeugt. Auch beim Berlin Festival ist es irre, wenn ein paar Tausend Nicht-Chemnitzer plötzlich „Ich komm‘ aus Karl-Marx-Stadt“ grölen. Noch schöner wird der Moment, als Kraftklub dann Ich will nicht nach Berlin anstimmen. In Berlin. Mit Berlinern. Und Nicht-Berlinern, die zum Festival nach Berlin gekommen sind. Auch abseits solcher Phänomene gibt es nichts weniger als eine perfekte Festival-Show: clevere Ansagen, Power, Stimmung, Hymnen, Provokation und zum Schluss nach Scheissindiedisko ein Bengalo in der Hand von Felix Brummer.
Künstler: Franz Ferdinand
Zeitreisen ohne Peinlichkeit
Dass Franz Ferdinand mittlerweile ein knappes Jahrzehnt Karriere mit sich herumschleppen, merkt man ihnen am Flughafen Tempelhof („I always wanted to play this airport“, lügt Sänger Alex Kapranos in einer Ansage) in keinem Moment an. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass ihre Songs kaum ein Qualitätsgefälle aufweisen. Die späteren Singles funktionieren genauso blendend wie die Kracher vom legendären Debüt oder neue Songs wie Right Thoughts! Right Words! Right Action! Noch einen drauf setzt dann aber Take Me Out: Als die Leute erst anfangen zu hüpfen (ohne Aufforderung!) während der Beat nach der ersten Strophe langsam Fahrt aufnimmt, dann die Gitarrentöne im Chor mitsingen und dann den Text schreien, weiß man, dass Festivals für Momente wie diesen erschaffen wurden.
Künstler: Paul Kalkbrenner
Ist Headliner ohne Paul Kalkbrenner
Paul Kalkbrenner sitzt am Samstagabend zuhause vor dem Fernseher und schaut die Krömer – Late Night Show im Ersten. Währenddessen steht irgendein beliebiger Glatzkopf auf der Hauptbühne beim Berlin Festival und spielt dort die MP3-Datei ab, die Paul Kalkbrenner nachmittags vorbereitet hat. Und keiner merkt’s. Das ist natürlich nur eine Theorie, aber es soll mir erst einmal jemand einen Gegenbeweis dafür liefern. Nach wie vor ist Techno bedenklich und als Live-Event sinnlos.
Künstler: The Soundtrack Of Our Lives
Walgesang ohne Salzwasser
Den kompletten Gegenentwurf dazu liefern The Soundtrack Of Our Lives. Die Schweden sind so weit entfernt von Berechenbarkeit wie der Fahrplan der Berliner S-Bahn. Ganz am Schluss ihrer Show versinkt Sänger Ebbot Lundberg am linken Bühnenrand in sich selbst und gibt Laute von sich, die an Walgesang denken lassen, dann an Grunzen und dann an einen ganzen Kirchenchor. Seine Bandkollegen erleben das alles genauso fassungslos wie das Publikum. Das ist sicher nicht so effektiv wie die Funktionsmusik aus dem Hause Kalkbrenner. Aber dafür spannend.
Zum Schluss das beste Ohne des Samstags beim Berlin Festival 2012. Die Silent Disco. Hammer. Das Prinzip ist einfach: Die Gäste bekommen Kopfhörer, zwei Kanäle mit jeweils anderer Musik. Sie tanzen und feiern – wer keine Kopfhörer hat, hört nichts. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis wird so lauthals, euphorisch und schief mitgesungen wie sonst wohl nur zuhause unter der Dusche, und so entstehen irre acappella-Momente. Wenn ein paar Hundert Leute (das Berlin Festival bietet die weltweit größte Silent Disco, Faktenfreunde) im Chor Wonderwall singen (und ein paar Verwirrte, die auf dem anderen Kanal unterwegs sind, das „Boh! Boh!“ von Sidos Fuffis im Club schreien), dann ist das wirklich ein einmaliges Erlebnis. Und wenn man entspannt zu Sunshine Reggae tanzt, während zeitgleich rundum ein Pogo zu Rage Against The Machine ausbricht, dann ist das ebenfalls: ohne Worte.
Die fast komplette Show von Franz Ferdinand beim Berlin Festival 2012:
httpv://www.youtube.com/watch?v=GUUs4gzkviU