Künstler | Bibio | |
EP | Sleep On The Wing | |
Label | Warp | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
„Wenn der Hans zur Schule ging.
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben.“
So beginnt die Geschichte von Hans-guck-in-die-Luft, und die Figur aus dem Struwwelpeter kann man wohl durchaus als Geistesverwandten von Stephen Wilkinson alias Bibio betrachten. Wenn er in seiner Heimat in den britischen Midlands in den Himmel schaut, kann er sicher ebenfalls Schwalben erkennen. Noch mehr angetan hat es ihm aber der Mauersegler, weil er über die erstaunliche (und dieser EP den Titel verleihenden) Fähigkeit verfügt, im Flug schlafen zu können.
„So kann er mehr Lebenszeit in der Luft verbringen als alle anderen Vögel. Er ist ein echtes Geschöpf der Luft; der Himmel ist sein Lebensraum“, schwärmt Wilkinson. Das Artwork sollte deshalb aus der Vogelperspektive gestaltet sein und eine Landschaft zeigen, die „absolut britisch aussieht… weil mich die Natur in Großbritannien schon seit langer, langer Zeit unendlich fasziniert. Das Gefühl, das ich in vielen meiner Songs transportieren möchte, basiert ja gewissermaßen auf dem Wunsch, zum Kern dieser besonderen Sphäre vorzudringen“, erzählt der Songwriter. Für die EP-Hülle, die schließlich von Chris Wormell gestaltet wurde, ist das genauso gut gelungen wie für die Musik: In den zehn Liedern kann man die Tradition von Nick Drake, Danny Thompson, Martin Carthy oder Bert Jansch erkennen, manchmal entstehen sogar Stücke wie The Milky Way Over Ratlinghope, bei dem egal zu sein scheint, ob es 4, 40 oder 400 Jahre alt ist.
Bibio ergänzt diese Klänge gelegentlich um Field Recordings wie das Vogelzwitschern in Lightspout Hollow, in dem eine Klaviermelodie wie ein Windhauch das Geschehen immer wieder neu zu beleben scheint. Sehr typisch für dieses Werk ist das Zusammenspiel von Gitarrenpicking und Streichern, wie man es etwa in Awpockes finden kann, und das manchmal viel schöner ist als die Landschaft, die es inspiriert hat. Ebenso vertraut dürfte Fans des Briten das Format sein: Nach jedem Album lässt er eine umfangreiche, klanglich verwandte EP folgen. Auch Sleep On The Wing kann man somit als Gegenstück zum 2019er Studioalbum Ribbons betrachten.
Für einige Songs hat er dabei auf Ideen zurückgegriffen, mit denen er sich schon seit gut zehn Jahren beschäftigt. Dazu gehört Watching Thus, The Heron Is All Pool, der Schlusspunkt der EP. „Als Gitarrenstück existiert er schon sehr, sehr lange, aber ich hatte noch nie eine Version aufgenommen, mit der ich wirklich happy war – bis ich diese hier gemacht habe“, erzählt Wilkinson. Man kann auch diesen Track als Paradebeispiel für die Sounds von Sleep On The Wing betrachten, denn solch schöne und sogar einfallsreiche Melodien stehen hier immer wieder im Zentrum.
Das ist kein Zufall angesichts der Arbeitsweise, die der Künstler verrät: „Wenn ich einen neuen Track schreibe, dann beginne ich meistens damit, die Melodien erst mal vor mich her zu singen – auf der Suche nach geeigneten Worten, die zu den Tonfolgen und zum Rhythmus passen. Irgendwann wird man dann fündig, womit auch schon das Kernthema des Stücks abgesteckt wäre. Als ich auf den Begriff Sleep On The Wing stieß, war mir sofort klar, dass das mehr war als irgendeine flüchtig dahingesungene Zeile. Es fühlte sich wie ein Titel an. Wie ein zentrales Thema.“
Das schwebende A Couple Swim ist ursprünglich für einen Soundtrack entstanden, wurde dann aber nicht im entsprechenden Film verwendet. „Ich habe dieses Stück immer geliebt und nach einem geeigneten Rahmen dafür gesucht. Auf diese EP passt es einfach perfekt.“ Die zehn Songs sind natürlich insgesamt vor allem beschaulich, es gibt aber auch genug Farbtupfer und Dynamik, etwa durch das wuselige Otter Shadows, die sich gut einfügenden elektronischen Elemente in Crocus oder das enorm heitere Miss Blennerhassett.
Nur zweimal gibt es Gesang, nämlich im erhabenen Oakmoss und im sehr filigranen Titelsong. „Was den Text angeht, glaube ich, dass zwei Aspekte besonders wichtig sind. Einerseits ist da der Gedanke, einen Menschen verloren zu haben und hoffnungsvoll mit diesem Verlust weiterzuleben, also das Leben des Verstorbenen gewissermaßen fortzuschreiben, indem man sich von seinen Taten inspirieren lässt… von dem, was dieser Mensch hinterlassen hat, ob das nun Aussprüche sind, Wissen, das er oder sie geteilt hat, oder konkrete Dinge, die er oder sie geschaffen hat. Der zweite Aspekt ist vielleicht etwas weniger abstrakt, denn hier geht es um eine Flucht aus der Stadt, darum, seinen Frieden auf dem Land zu finden“, sagt Wilkinson über Sleep On The Wing. „Allerdings zelebriert der Song eher das bloße Träumen davon, die befreiende Kraft der Imagination, und gar nicht unbedingt die wirkliche Flucht.“ Hans-Guck-in-die-Luft wäre wohl stolz gewesen.