Künstler | Bleached | |
Album | Don’t You Think You’ve Had Enough? | |
Label | Dead Oceans | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
Ein Tagtraum ist normalerweise eine angenehme Sache. Das würden sicher auch Jennifer Clavin und Jessie Clavin unterschreiben. Die beiden kalifornischen Schwestern haben allerdings eine Einschränkung, die ihr drittes Album als Bleached sehr entscheidend prägt: Irgendwann sollte dieser Tagtraum vorbei sein. Man muss aufwachen und in der Realität an- und klarkommen. Das ist die Botschaft von Daydream, dem dritten Lied auf dieser Platte: Es hilft nichts, in einer Fantasiewelt zu leben, es gibt letztlich kein Entkommen aus der Wirklichkeit. Die wird hier mit den Zeilen „What a disgrace / what a mistake“ zuammengefasst, Schlagzeug und Gitarre machen dazu mächtig Krawall, aber nicht so dreckig, wie man das von Bleached kennt, sondern innerhalb eines erstaunlich polierten Klangbilds.
Viele Dinge, die auf Don’t You Think You’ve Had Enough? anders sind als beim Debüt Ride Your Heart (2013), dem Nachfolger Welcome The Worms (2016) oder der 2017er EP Can You Deal?, sind in Daydream quasi konzentriert. Die Sache mit dem helleren Sound ist dabei noch am einfachsten zu erklären. Die Clavin-Schwestern waren zuletzt auf Tour beispielsweise mit The Damned und Paramore und haben in diesen Konzerten auch erfahren, wie Musik klingen muss, um in einer großen Arena zu funktionieren. Gemeinsam mit Produzent Shane Stoneback (Vampire Weekend, Sleigh Bells) nähern sie sich diesem Ziel in den zwölf neuen Liedern mal behutsam, mal sehr offensiv an.
Ein Song wie Kiss You Goodbye zeigt diesen Ansatz recht deutlich. Nicht nur wegen der funky Gitarre, sondern auch wegen der Position größter Souveränität und Selbstsicherheit hätte das gut in die Blütezeit von Blondie gepasst. Valley To L.A. hätte Tom Petty stolz gemacht, Bleached erzählen darin aus einer Storyteller-Perspektive vom nach wie vor verlockenden Versprechen der City of Dreams. „Wir wollten alle Erwartungen möglichst ausblenden, weil wir damit wirklich schlechte Erfahrungen gemacht haben. Alles sollte sich stattdessen ganz natürlich ergeben“, erklärt Jessie Clavin, wie sich der erweiterte Horizont auch auf die Arbeitsweise des Duos ausgewirkt hat. Sie selbst hat dabei wieder die meisten Instrumente eingespielt, Jennifer hat sich um Texte und Melodien gekümmert.
Größer als im Sound sind die Unterschiede zwischen Don’t You Think You’ve Had Enough? und seinen Vorgängern indes hinsichtlich einer Zutat, die erstmals keinen Anteil am entstehenden Werk hatte: Alkohol und andere Drogen. Der Albumtitel steht für den irgendwann 2017/18 getroffenen Entschluss von Jennifer, dass sie nun genug vom Rock’N’Roll-Lifestyle hat, der längst den Status einer Sucht erreicht hatte und begann, auch gesundheitlich seinen Tribut zu fordern. Erstmals haben die Schwestern hier im nüchternen Zustand geschrieben und aufgenommen, sagen sie.
„Es gab diese Moment kurz vor dem Nüchternwerden, in denen sich in mir eine große Angst ausgebreitet hat. Die einzige Methode, wie ich damit umgehen konnte, war das Weitertrinken“, gesteht Jessie. „Auch durch das Schreiben habe ich dann neue Werkzeuge erlernt, mit denen ich dieser Angst begegnen kann. Mir wurde klar, dass Nüchternsein viel mehr bedeutet als Nicht-Trinken. Das war eine erschütternde Erkenntnis.“ Die neuen Prinzipien im Haus Clavin heißen: Akzeptiere, wer du bist! Liebe dich selbst! Sei ehrlich zu dir! Schon bald stellte sich heraus: Don’t You Think You’ve Had Enough?, in ihrem Proberaum in Los Angeles und mit Freunden und Co-Autoren in Nashville entstanden, würde nicht nur die erste Platte von Bleached werden, die nüchtern erschaffen wurde, sondern auch die erste, bei der sie während der Arbeit glücklich waren.
Entsprechend viele Momente des schmerzhaften Rückblicks, der ehrlichen Selbsterkenntnis und des zuversichtlichen Ausblicks bietet das Album. Gleich im Opener Heartbeat Away geht es um eine „Do or die“-Situation (eine Formulierung, die sich später auch in Somebody Dial 911 noch einmal findet). Trockene Drums und eine trockene Gitarre eröffnen die Platte, wie man das von Bleached kennt. Im Refrain gesellt sich reichlich Eleganz dazu, im Break kann man sogar etwas Niedlichkeit erkennen.
Real Life hat eine ähnliche Perspektive wie Daydream. Hier heißt es: „Something doesn’t feel right / this is really, really, really, really, real life.“ Zu Beginn klingt diese Erkenntnis noch wie ein Schock, am Ende wie eine sagenhaft lebensbejahende Befreiung. Silly Girl erzählt davon, wie Freundschaften durch Drogen und Alkohol beschädigt und zerstört werden können. Darin ist tatsächlich vor allem in der Strophe nicht nur Trotz hörbar, sondern Melancholie, Angst, Erschütterung – in jedem Fall etwas, das sehr tief berührt.
Die erste Single Hard To Kill klingt mit dem fast übertrieben fröhlichen Pfeifen und später mit der munteren Kuhglocke zur Verstärkung des Disco-Punk-Beats bestens gelaunt, allerdings nur, wenn man den Text ignoriert. „Put a gun to my heart / I don’t care“, heißen die ersten Zeilen. „Es geht darum, dem Tod ins Auge zu blicken und zu erkennen, dass man schleunigst aufwachen und sich aus den eigenen Mustern der Selbstzerstörung befreien sollte“, sagt Jennifer. Die Arbeit am dritten Album der Band hatte dabei für sie durchaus therapeutische Wirkung: „Diese Lieder im nüchternen Zustand zu schreiben, glich einer spirituellen Erfahrung. Es war, also würde ich eine Verbindung aufbauen zu einer Macht, die größer ist als ich selbst.“
Don’t You Think You’ve Had Enough? ist dabei weit davon entfernt, eine Come-Down- oder Rehab-Platte zu sein. Das zeigen Songs wie I Get What I Need, das eine coole Aggressivität wie Iggy Pop ausstrahlt, oder Awkward Phase, das zum Rücklick auf die Pubertät wird mit dem Fazit: Es ist eine ziemlich coole Leistung, diese Zeit überlebt zu haben. „Ich habe das Album diesmal nicht als einen Ausriss aus meinem Tagebuch betrachtet, sondern als ein Kunstwerk. Auch das hat die Arbeitsweise sehr verändert“, sagt Jennifer. „Ich habe mich getraut, zu experimentieren, die Dinge laufen zu lassen und etwas Kontrolle abzugeben. Das hat sich als ein Segen erwiesen, denn ich habe mit den Melodien ein paar Dinge angestellt, die ich normalerweise nie gemacht hätte.“
Ein Lied wie Somebody Dial 911 ist ein schöner Beleg dafür. Der Rettungswagen soll hier nicht etwa wegen einer Überdosis gerufen werden, sondern weil sie sich wieder verliebt hat und ziemlich sicher ist, es werde in einem Notfall enden. Das Ergebnis ist eher Powerpop als Garagenrock, auch wegen der Freiheiten in der Melodieführung. „I don’t want what I can’t have“, lautet der Entschluss in Rebound City, von dem sie selbst noch nicht ganz überzeugt zu sein scheint. Zugleich scheint sich das „I’m sorry“, das darin artikuliert wird, auch an sie selbst zu richten.
Shitty Ballet schließt das Album ab und zeigt am deutlichsten, wie weit sich Bleached stilistisch weiterentwickelt haben. Den Song haben sie innerhalb von ein paar Stunden geschrieben, gespeist von akutem Liebeskummer. Die akustische Gitarre zu Beginn, die sie nie zuvor derart prominent eingesetzt hatten, klingt auch ein paar Monate nach der ersten Veröffentlichung dieses Lieds noch wie ein Schock. Umso wirkungsvoller ist dann der Moment, als doch noch die anderen Instrumente einsetzen und Bleached ihre gesamte Rock-Strahlkraft offenbaren.
„Seit diesem Album habe ich erstmals den Eindruck, eine Beziehung zu mir selbst zu haben. Das war bei Welcome The Worms noch nicht so. Damals wusste ich nicht, wer ich bin. Und ich mochte die Person nicht, die ich war“, sagt Jennifer. „Eine wichtige Inspiration für diese Platte war die Liebe zu mir selbst und die Erkenntnis, dass die schon immer zu mir gehörte. Ich brauche keine ungesunden Beziehungen mehr, weder in romantischer Hinsicht noch in anderer. Ich muss mich selbst nicht wie Scheiße behandeln. Ich mag mich jetzt.“