Blond Perlen Albumkritik

Blond – „Perlen“

Künstler*in Blond

Blond Perlen Review Kritik
Blond bauen auf „Perlen“ ihre Stärken aus.
Album Perlen
Label Beton Klunker
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung Bandfoto oben: (C) Fleet Union / Sarah Storch

Norah Mudanya hat eine Mission: Sie möchte Mädchen und junge Frauen in ihrer Heimatstadt Nairobi dazu bringen, sich zu wehren. Sich kein Catcalling gefallen zu lassen, herablassende Sprüche nicht zu ignorieren, aufdringlichen Typen im Bus entschlossen entgegenzutreten, lüsterne Blicke, Berührungen oder gar Missbrauch aus der eigenen Verwandtschaft nicht zu verschweigen. Als Mitarbeiterin des Projekts „Ujamaa-Afrika“ gibt sie Selbstverteidigungskurse an Schulen.

Der erste Schritt, den sie dabei unterrichtet, und der den Schülerinnen oft genug schwer genug fällt, lautet: Schreien! Mädchen sollen nicht lieb, ruhig und höflich sein – was sie oft selbst dann noch bleiben, wenn sie attackiert werden. Sie sollen den Mund aufmachen und laut sein. Alles herausbrüllen, was sich an Wut, Frust und Abscheu ein Leben lang in ihnen aufgestaut hat. Studien zeigen: Potenzielle Täter anzuschreien, kann tatsächlich bereits ein sehr effektives Mittel zum Selbstschutz sein. Für die Absolventinnen der „Ujamaa-Africa“-Kurse sinkt das Risiko einer Vergewaltigung um 50 Prozent, hat eine Evaluation ergeben.

Blond haben das längst erkannt, sie brauchten dafür keinen Kurs in Kenia, sondern bloß den Alltag in Chemnitz. Ich sage ja heißt ein Lied auf ihrem heute erscheinenden zweiten Album Perlen, und es thematisiert genau dieses Ausbrechen aus dem gelernten Rollenbild. „Gibt es Streit, dann bleibe ich lieb“, beschreiben sie die Erwartungshaltung an weiblich gelesene Personen, „Ich rede ganz ruhig / warum sollte ich schreien“, heißt es später. Mit viel Wut im Bauch und der nötigen Weitsicht zeigen sie in dem Song, welche Folgen diese internalisierte Defensive hat, von Selbstzweifeln und Übergriffen bis zu fehlender Repräsentation und der Gender Pay Gap. Das Beste daran ist, wie viel Spaß dieser Song trotz der kritischen Botschaft macht, und wie wunderbar er viel von dem repräsentiert, wofür Nina Kummer, Lotta Kummer und Johann Bonitz stehen. Es geht um Ermächtigung und Zusammenhalt, um Zuspruch und Aufbegehren, um Autonomie und Gemeinschaft. Als Gäste bei Ich sage ja sind Power Plush dabei, die ebenfalls aus Chemnitz kommen und bei der Plattenfirma unter Vertrag stehen, die Blond gegründet haben. Gemeinsam entwickeln sie hier einen tollen Drive und noch tollere Harmonies.

Man kennt diese Attitüde und auch die musikalischen Mittel vom Debütalbum Martini Sprite (2020) und den vielen Konzerten, die das Trio in den wenigen Lockdown-Pausen seitdem gespielt hat. Sehr gekonnt entwickeln Blond auf Perlen aber ihre Stärken ebenso weiter wie ihre Eigenheiten. Im Intro und Outro feiern die Fans sich und ihre Lieblinge mit Fußball-Sprechchören, in Oberkörperfrei gibt es aggressiven Rap (einschließlich einer Strophe von Johann), der ebenso heavy wie smart ist, das abschließende Du musst dich nicht schämen würde auch schön zu ihren großen Brüdern von Kraftklub passen, mit der messerscharfen Gitarre und dem tanzbaren Beat, auch mit seiner Selbstironie.

Ohnehin zeigt Perlen, dass Blond nicht nur um die Kraft der lauten Stimme wissen, sondern auch um die Macht des Humors, vor allem mit einem etwas schwarzen Hauch. Wer seit fünf Monaten vergeblich nach einem Platz für eine Psychotherapie sucht (das ist im Durchschnitt die aktuelle Wartezeit), wird Mein Boy vielleicht nicht amüsant finden, aber der Einfall, dieses „Ich habe ihn endlich gefunden“ als Liebeslied zu verkleiden („Seit ich ihn kenne / ist die Welt schön“), ist großartig. Auch Du und Ich arbeitet mit diesem Mittel und der geniale Idee, die Avancen von Tanzflächen-Grabschern und Dickpick-Absendern ernst zu nehmen, als tatsächlichen Versuch, eine Frau für sich zu begeistern, eine Beziehung anzubahnen, die eigene Zuneigung zu offenbaren. „Du und ich für immer / ich lass dich nie mehr los / ein Haus, ein Hund und Kinder / du und ich bis in den Tod“, lautet dann die Konsequenz, die für übergriffige Männer vielleicht nicht mehr ganz so verlockend ist.

Sims 3 zieht (ziemlich ernüchternde) Parallelen zwischen dem Videospiel und dem Geschehen jenseits der Simulation auf dem Monitor („Das Spiel läuft nicht gut / ich scheitere unentwegt / nicht mal mein Sim / hat sein Leben im Griff“), Toxic kombiniert den Schwur „Nie mehr toxic guys“ mit Informationen über Parasiten wie aus einer Naturdokumentation und stellt ganz ans Ende natürlich noch ein Mini-Britney-Zitat. Die sehr stimmungsvolle Ballade Immer lustig weist darauf hin, dass Witz zwar wichtig ist zur Bewältigung der Welt, oft aber eben auch ein Ablenkungsmanöver: Hinter der gut gelaunten Fassade steckt auch bei Blond oft genug tiefe Traurigkeit – egal, wie ausgelassen die Stimmung auf Tour oder der Jubel im Konzert ist.

Die Vorab-Single Männer (mit Rapperin addeN aus Berlin) ist längst eine Hymne geworden, und sie findet das perfekte musikalische Format für seine Botschaft, die viel zu viele Männer in der Musikszene beklagt, die oft genug einer „Pimmelparty mit bleichen Rentnern“ gleicht. Das Riff ist entsprechend stark, aber nicht angeberisch, kombiniert wird das mit sehr cleveren Zitaten und Bezügen und Details, die nicht zuletzt beweisen, dass Blond die Pop-Geschichte mindestens so gut kennen (und verstanden haben) wie manch Rolling Stone-Abonnent mit Mansplaining-Zwang.

Vielleicht das schönste Lied auf Perlen ist der Auftakt Durch die Nacht, denn hier zelebrieren Blond noch einmal ihren Glamour nach eigenen Maßstäben, sie verströmen Zuversicht aus jeder Pore und sie feiern nicht zuletzt die Möglichkeiten, die Pop bietet. Es geht um ein Erweckungserlebnis als Elfjährige, ausgelöst durch Acts wie LaFee oder Wir sind Helden, mit der Erkenntnis: Mädchen können auch Popstars sein, sie können auf der Bühne stehen, angehimmelt werden und etwas mitteilen, was denen vor der Bühne etwas bedeutet. Blond haben diesen Weg gewählt, und obwohl er ihnen bisher keinen Reichtum gebracht hat („Wären Festivalbändchen so kostbar wie Juwelen / könnt ich zwischen Prada- und Dior-Handtaschen wählen“), haben sie das nie bereut. Mehr noch: Sie sind selbst solche Role Models geworden, die nun andere ermutigen, inspirieren oder wenigstens trösten. Das ist schon eine Menge.

Beef mit Veganer*innen sollte man unbedingt erst nehmen, zeigt das Video zu Oberkörperfrei.

Website von Blond.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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