Künstler*in | Blondshell | |
Album | Blondshell | |
Label | Partisan Records | |
Erscheinungsjahr | 2023 | |
Bewertung | ★★★★☆ | Foto oben: (C) Beats International / Daniel Topete |
Irgendwann ist es so weit. Man hat diese Idee oder dieses Gefühl, das einfach raus muss. Man greift zum Notizblock oder zum Tablet, zur Gitarre oder zum Klavier. Und man schreibt seinen ersten Song. Dafür ist die Musik und die Idee von Autor*innenschaft ja da: als Ventil, als Dokument der eigenen Gedankenwelt, als Einladung an ein Publikum, an den eigenen Gefühlen teilzuhaben, als Umsetzung der Möglichkeiten des so verlockend klingenden Slogans von „Express yourself“.
Für Sabrina Teitelbaum, die heute als Blondshell ihr Debütalbum vorlegt, war das allerdings keineswegs so eine Selbstverständlichkeit. Erstens schüttet sie in diesen Songs tatsächlich ihr Herz aus, entblößt ihr Liebesleben, ihre Alkoholsucht, schwierige Kindheitserfahrungen und brüchige Freundschaften. „Die Texte sind wirklich verletzlich und es war beängstigend, sie auszusprechen“, sagt sie. „Ich habe das Gefühl, dass die schreddernden Gitarren eine schützende Hülle sind.“ Zweitens hatte sie bei ihrem Start ins Musikgeschäft keineswegs vor, autobiografisch, sogar annähernd therapeutisch zu arbeiten. Sie zog 2015 aus New York nach Los Angeles, um Musik zu studieren, und versuchte sich dann als Pop-Interpretin.
Nach einigen Single-Veröffentlichungen und Achtungserfolgen brach sie Anfang 2020 mit diesem Ansatz und ersetzte ihren bisherigen Künstlernamen Baum durch Blondshell. Sie warf die Erwartungshaltung an Charts und Eingängigkeit über Bord und packte stattdessen das in ihre Songs, was sie beschäftigte. „Das war ich als Person in meinen Liedern“, sagt die 25-Jährige über das neue Material, an dem sie dann mit Produzent Yves Rothmann weiter arbeitete. Man kann das auf Blondshell schnell bestätigt finden: In diesen Liedern stecken ein so schmerzhafter Weg zur Selbsterkenntnis und so viele intime Bekenntnisse, dass es manchmal an Voyeurismus grenzt, sie überhaupt zu hören. „Alles auf dieser Platte ist sehr explizit. Alle Texte handeln von Dingen, die wirklich passiert sind“, betont Teitelbaum.
Ein sehr wichtiges Motiv dabei ist das Überwinden von ungesunden Prägungen. Im Auftakt Veronica Mars stammen sie aus der gleichnamigen Fernsehserie, die Teitelbaum als Heranwachsende viel gesehen hat – einschließlich der Erkenntnis, dass sich Mädchen gerne nach den Typen verzehren, die sich wie Arschlöcher benehmen („Logan’s a dick / I’m learning that’s hot“). Sie besingt diese Erfahrung zunächst nur mit Gitarre und Gesang, dann kommen noch eine Stimme und noch eine Gitarre (die schützende Hülle!) hinzu, das Ergebnis klingt verstört und verstörend, am Ende explodiert es fast vor Lärm, Feuer und Aufbegehren, wie ein sterbendes Tier, das sich mit den letzten Zuckungen ans Leben klammert.
Das folgende Kiss City handelt vom Geständnis, dass man auch in Zeiten von Online-Dating, Tinder und der großen Einsamkeit während/nach der Pandemie doch den Anspruch an eine Partnerschaft haben darf, dass da vielleicht Verliebtheit und Verbindlichkeit im Spiel sein dürfen. Die Künstlerin erzählt, dass sie diesen Wunsch nur deshalb in einen Songtext packen konnte, weil sie davon ausging, dass das Lied ohnehin nie veröffentlicht werden würde. „Nur deshalb konnte ich die peinliche Wahrheit sagen, dass es mir wichtig ist, mit wem ich schlafe und mit wem ich Dates habe. Das ist für mich nicht zwanglos. Es bedeutet mir sogar sehr viel.“ Auch hier entspricht das Arrangement der Geschichte dieser Befreiung, von einem entspannten, etwas schüchternen Beginn zu viel Größe und Drama.
Sepsis, das sie gemeinsam mit Yves Rothman geschrieben hat, erzählt vom Erlernen von Selbstachtung: Rund um die Zeile „It should take a whole lot less to turn me off“ ermahnt sie sich hier dazu, sich nicht mies, herablassend oder respektlos behandeln zu lassen. Wer ihr dumm kommt, kann ihr gestohlen bleiben – egal, wie groß das ursprüngliche Interesse an einem Flirt auch gewesen sein sollte. Der Song klingt entsprechend cool und abgeklärt, aber da ist eben auch Leidenschaft und Trotz erkennbar, ebenso wie ein weiteres zentrales Thema bei Blondshell: der Kampf um Romantik, das Nicht-Aufgeben-Wollen des Glaubens, dass diese Sache mit der großen Liebe vielleicht auch im 21. Jahrhundert noch immer existiert und eines Tages auch für sie selbst funktionieren wird.
Als Gegenstück zu Sepsis betrachtet sie Tarmac, das fast zur selben Zeit entstand, ähnliche Akkorde nutzt und vor allem thematisch eng verwandt ist. „Es geht um eine ähnliche Situation: Ich suche nach Bestätigung, aber immer wenn ich versuche, sie zu bekommen, wird alles noch schlimmer. Oder ich versuche, einen Knoten zu lösen, aber er wird immer fester und fester. In diesem Song ging es um den Schmerz und die Wut, wenn man versucht, etwas zu reparieren, und es dann nicht funktioniert und man ein noch größeres Chaos anrichtet.“ Musikalisch ist Tarmac einer der spektakulärsten Momente auf Blondshell, es gibt viele Überraschungen, Aggressivität und Eleganz – in Summe kann man es sich wie eine Powerballade von Wilson Phillips vorstellen, wenn die nicht Popstar-Töchter, sondern kiffende Slackerinnen gewesen wären.
Joiner bezeichnet Teitelbaum zwar als stark von Britpop beeinflusst, der Gesang darin lässt aber eher an Fleetwood Mac oder auch Patti Smith denken. Letztere sieht die Musikerin explizit als Vorbild, nicht nur durch ihre Songs, sondern auch durch ihre Bücher, genau wie die Werke von Rebecca Solnit, Rachel Cusk und Clare Sestanovich. „Ich fand es toll, wie ernst sie ihre eigenen Erfahrungen nahmen. Sie halfen mir, die Dinge, die ich durchmachte, nicht zu trivialisieren.“
Zu diesen Dingen gehört der in Sober Together besungene Alkohol-Entzug, der Blondshell ausnahmsweise sanft und sogar verletzlich klingen lässt, was sich auch in Dangerous erkennen lässt, das eine tolle Melodie mit viel Sensibilität und Fragilität kombiniert, rund um die Angst, nach der Covid-Isolation vielleicht noch weniger als soziales Wesen geeignet zu sein als vorher schon. Umgekehrt gönnt sie sich in Salad ein paar Mordfantasien („Put some poison in his salad and it wouldn’t be so bad“), das Lied ist bedrohlich und unheimlich durch das Klavier und heavy durch die Gitarren und Drums, zugleich hört man im Gesang so viel mühsam unterdrückte Agressivität, dass die Zeile „Cuz we were never violent“ beinahe bedauernd klingt. Auch Olympus („In dem Song geht es viel um das Chaos, 21 oder 22 zu sein und nicht zu wissen, wer ich bin, also versuche ich, in jedem einzelnen Moment Spaß zu haben. Es hat sich herausgestellt, dass es nicht so viel Spaß macht, immer nur der Aufregung hinterherzujagen. Dieser Song fängt die Nachwirkungen des Versuchs ein, das Leben auf diese Weise anzugehen“) wird auf ähnliche Weise gewagt, wenn das Wörtchen „burn“ in der Zeile „While I burn“ in den hübschesten Harmoniegesang gepackt wird.
Man kann in diesen Songs viel von der Ästhetik und einiges von den Themen erkennen, die es beispielsweise auch bei Wet Leg, Courtney Barnett und Suki Waterhouse gibt (mit der Blondshell zuletzt auf Tour war), auch Fans von Ilgen-Nur dürften hier bestens aufgehoben sein. Die Einmaligkeit dieser Songs kommt aber tatsächlich aus dem Entschluss, wirklich alles in diese Lieder zu packen, ohne Rücksicht auf Verluste. „Ich möchte den Leuten immer das Gefühl geben, dass sie mehr Macht und Kontrolle haben und mehr Frieden finden können, weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich das für mich selbst will. Ich weiß, wie die Musik mir geholfen hat, das zu erreichen. Jeder Song gab mir mehr Selbstvertrauen. Ich hoffe, dass die Lieder den Menschen auch auf diese Weise helfen.“