Künstler | Bob Mould | |
Album | Blue Hearts | |
Label | Merge Records | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Es gab mal eine Zeit, da war das ein großes Privileg, für A&R-Männer (es waren fast immer Männer), Musikchefs bei Radiosendern (auch dort: sehr bewusst in der maskulinen Form) oder Kritikern bei Musikzeitschriften (auch eine Tätigkeit, die sich kaum eine Frau zumuten möchte): Sie bekamen ungefragt Unmengen an neuer Musik zur Verfügung gestellt, konnten viele neue Acts kurz antesten und dann nach den ersten Eindrücken entscheiden, wer von ihnen vielleicht mit einigen Zeilen in der nächsten Ausgabe, ein paar Minuten Airplay oder einem Vorspielen bei der Plattenfirma belohnt wurde.
Heute ist – und Bob Mould scheint das noch nicht gemerkt zu haben – fast jeder Musikhörer in dieser Position. Ob YouTube oder Spotify: Der Fundus an Musik ist unerschöpflich und kostenlos, die nächste Entdeckung stets nur einen Klick entfernt. Das bedeutet: Ein Song muss schnell funktionieren, um nicht dem Skip zum Opfer zu fallen, ein Album erst recht. Sollte er mit Blue Hearts auf solche Hörer treffen, wird der 59-Jährige wenig Chancen haben. Heart On My Sleeve heißt der erste Song, und er klingt, als würde ein alter Mann zwei Minuten lang mit brüchiger Stimme zu einer akustischen Gitarre lamentieren. Das ist so wenig spektakulär, dass man danach tatsächlich gedanklich abschalten könnte, selbst wenn man die Botschaft von den Gefahren des Klimawandels und dem fahrlässigen Versagen der Regierung teilt.
Natürlich wäre es ein Fehler, Bob Mould zu diesem Zeitpunkt abzuschreiben, als Hörer ebenso wie als A&R-Mann. Als ehemaliges Mitglied von Hüsker Dü und auch mit seinen zuvor 13 Soloalben (zuletzt 2019 Sunshine Rock) hat er gezeigt, dass er epochale Musik erschaffen kann. Man darf wohl mit Recht behaupten: Tausende Songs, die heute YouTube und Spotify bevölkern, sogar etliche Plattenfirmen, würden nicht existieren ohne seinen Einfluss. Nach dem etwas gewöhnlichen Auftakt zeigen die 14 in Chicago aufgenommenen Songs auf Blue Hearts dann auch sehr schnell, dass er weiterhin bestens in Form ist.
Schon Next Generation offenbart als zweites Stück der Platte so viel Wut und Feuer, dass es A&R-Männer oder zartbesaitete Spotify-Hörer problemlos aus dem Stuhl pusten könnte. When You Left klingt, als hätte man einen Song von Frank Black in Säure getaucht, Racing To The End stolpert beinahe über die eigenen Füße vor lauter Tempo und Vorwärtsdrang, in Password To My Soul klingt die Gitarre noch etwas dreckiger und giftiger als ohnehin schon bei diesem Künstler.
Was ihn antreibt, ist auf Blue Hearts ebenfalls unverkennbar. „Wir haben einen charismatischen, telegenen, alles versprechenden Führer, der von Evangelikalen gestützt wird“, beschreibt Bob Mould die politische Lage in den USA, die ihn auf bedenkliche Weise an den Beginn der Reagan-Ära in den 1980er Jahren erinnert. „Diese Ficker haben einmal versucht, mich umzubringen. Sie haben es nicht geschafft. Aber sie haben mich erschreckt, und ich habe damals nicht genug getan. Und weißt du, was? Ich bin zurück und es geht wieder los. Und ich werde dieses Mal nicht ruhig sitzen und mir Sorgen machen, jemanden vor den Kopf zu stoßen.“ American Crisis ist das Lied, das schon im Titel diese Kritik auf den Punkt bringt. Der Song sollte eigentlich schon auf den Vorgänger, wurde aber als zu düster dafür betrachtet. „American Crisis erzählt die Geschichte von zwei Zeitaltern“, sagt Bob Mould. „Die Parallelen zwischen 1984 und 2020 sind für mich beängstigend: fernsehtaugliche, charismatische Führer, gepriesen und gefördert von Hardcore-Evangelikalen, die eine aktuelle Epidemie entweder ignorieren (HIV/Aids) oder sie auf geradezu betrügerische Weise leugnen (Covid-19)“, sagt er. Diese Angst wird mit viel Geschwindigkeit, Lärm und Energie sowie plakativen Zeilen wie „Things are turning darker every day / in the fucked up USA“ kanalisiert.
Zur aufrechten Empörung, die hier fast überall der Treibstoff ist, kommt die Fähigkeit des Künstlers, für das richtige Maß an Finesse und Abwechslung zu sorgen. Fireball hat einen überraschenden Choral-Teil am Ende, in Baby Needs A Cookie sind Eingängigkeit, Stimmeffekte und eine Frauenstimme verwebt, Leather Dreams ist vielleicht die Bob-Mould-Entsprechung einer Ballade, Everything To You zeigt, dass die Kraft, die Bob Mould verströmt, auch eine positive sein kann. Forecast Of Rain vereint elektrische und akustische Elemente und wirkt dadurch etwas reflektierter, wenn man all den Furor von Siberian Butterfly abzieht, wird ein klasse komponierter Rocksong sichtbar, in Little Pieces kann man so etwas wie Zufriedenheit und Stolz, zumindest aber Zuversicht erkennen, The Ocean beschließt des Album in eher getragenem Tempo.
Als „the catchiest batch of protest songs I’ve ever written in one sitting” bezeichnet Bob Mould die Platte. Das kann man durchaus unterschreiben – wenn man das erste Lied erst durchgestanden aus.