Künstler | Bosse | |
Album | Kraniche | |
Label | Vertigo | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Bewertung |
„Ich such nicht mehr und finde nur“, singt Axel Bosse im ersten Lied seines fünften Albums. Kraniche heißt das Stück, es betont an anderer Stelle, die Neurosen vergangener Jahre seien nun in einem Koffer verpackt. Kraniche heißt auch der Longplayer, und das Konzept passt natürlich zur Botschaft: Die Musik ist betont heiter, mal gelassen, mal beschwingt, vor allem aber entschlossen zur Zuversicht.
Fangen wir an mit dem Problem, das damit einher geht: Melancholie, zuvor ein prägendes Element in der Musik des in Hamburg lebenden Niedersachsen, findet sich auf Kraniche kaum noch. Wenn sie präsent ist, dann nicht im Innenleben von Bosse als Erzähler, sondern in Figuren, die ihm begegnen. Vive la danse heißt eine davon, so lautet der Spitzname eines Mädchens, dessen wichtigste Prinzipien offensichtlich Nonkonformismus und Hedonismus sind, und das sich damit zu dezenten Clubsounds durchs Leben tanzt. Eine andere heißt Sophie. Bosse singt über die Begegnung mit ihr, in der ein bisschen Flirt steckt, in erster Linie aber sehr viel Mitgefühl. Es sind zwei Figuren, die mit sich kämpfen, die ihren Platz im Leben nicht gefunden haben. Früher war Bosse selbst so jemand, und natürlich ist das eine spannendere Situation als die Zufriedenheit, die er hier artikuliert. Auch deshalb ist Kraniche thematisch ein wenig eindimensional.
Das zweite Manko ist die Offensichtlichkeit dieser Platte. „Ich such nicht mehr und finde nur“, singt Bosse wie gesagt, und er hat keinerlei Interesse daran, die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Fundstücke irgendwie (lyrisch) zu verschleiern. Es gibt deshalb kein Lied auf Kraniche, das ein Geheimnis hätte. Vielmehr ist sonnenklar: Der Künstler preist Achtsamkeit, Work-Life-Balance und Entschleunigung, in praktisch jedem dieser zwölf Songs. Er findet gemeinsam mit Produzent Philipp Steinke (Boy) fast immer auch eine musikalisch entsprechend sensible Umsetzung für diese Themen, aber in einigen Momenten wie Müßiggang ist das doch ein wenig schlicht. Auch Brillant ist ein Schwachpunkt: Der Idee, über eine Nacht hoch über der Stadt zu singen, fehlt in der Umsetzung die nötige Magie, damit sie einen ganzen Song zu tragen könnte.
Der Vorteil dieser wenig verklausulierten Herangehensweise: Sie wirkt unmittelbar. Es geht Bosse darum, seine Mitmenschen zu erreichen und zu berühren, und das funktioniert eben besser (wenn auch vielleicht nicht so nachhaltig), wenn man sie direkt anspricht statt in Rätseln zu formulieren. Natürlich ist das eine angemessene Wahl für sein Repertoire, schließlich geht es bei Bosse schon immer bevorzugt um Geschichten aus dem Alltag, mit normalen Leuten als Protagonisten. Nicht zuletzt passt dieser Ansatz auch zum biographischen Hintergrund von Kraniche: Nach dem Vorgänger Wartesaal und der stressigen Tour zum Album fühlte sich Bosse ausgelaugt. Er verbrachte viel Zeit in Istanbul, später auch in Italien, um die körperlichen und kreativen Akkus wieder aufzuladen. „Istanbul kam genau richtig nach diesen zwei anstrengenden Jahren. Meine Stimme war kaputt und mein Kopf leer. Da war die Grundangst, dass da einfach irgendwann mal nichts mehr Gescheites kommt. Ich konnte dort ausruhen, mal was anderes machen“, sagt er.
Das Lied namens Istanbul belegt, wie eindrucksvoll und inspirierend der Aufenthalt gewesen sein muss. Ein ähnlich exotisches und opulentes Arrangement hat Alter Affe Angst mit Streichern, Bläsern (die Trompete spielt Martin Wenk von Calexico) und der Erkenntnis: Optimismus muss immer wieder neu erkämpft werden. Der dritte stilistische Ausreißer auf Kraniche ist Familienfest: Die erlesenen Streicher werden zur Entsprechung von Etikette und Harmonie, die hier vorgegaukelt wird. Für Bosse als Zaungast dieser Gartenparty ist die Erkenntnis „Ihr seid kaputt, so kaputt“ wohl nicht weniger schlimm als für die als Familienmitglieder unmittelbar Betroffenen.
Ansonsten gibt es sehr geschmackvollen Poprock, mit etwas mehr Klavier als bisher und etlichen Highlights. Schönste Zeit wird eine Hymne auf die Jugend in der Provinz, auf die großen Träume und kleinen Abenteuer, sehr explizit nostalgisch, aber kein bisschen kitschig. Das tanzbare So oder so sprüht vor Energie und Ideen, Konfetti wird ein wundervoll romantischer Rausschmeißer für die Platte. Sehr typisch ist Vier Leben: „Du kannst Spagat zwischen Menschen und Dingen / doch sie fressen dich“, heißt eine der zentralen Zeilen, die Musik ist über weite Strecken bewusst reduziert, die Trommeln nach dem stürmischen Finale klingen dann wie auf einer Galeere, um den Kontrast zwischen Runterkommen und Hamsterrad zu illustrieren.
Das ist nicht nur schöne Musik, sondern auch ehrlich, gefühlvoll, sympathisch und bescheiden. Da braucht man vielleicht auch gar nicht so viel Geheimnis.