Autor*in | Bruce Chatwin | |
Titel | Traumpfade | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1987 | |
Bewertung | Foto oben: falco auf Pixabay |
Als 2014, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod von Bruce Chatwin, eine Auswahl seiner Briefe veröffentlicht wurde, wählten die Herausgeber für diese Sammlung Der Nomade als Titel. Das ist natürlich einleuchtend bei einem Schriftsteller mit einem solchen Werdegang: Chatwin wurde 1940 in Sheffield geboren, war dann Journalist bei der Sunday Times und Kunstsachverständiger bei Sotheby`s in London. Als freier Autor war er anschließend überall in der Welt unterwegs, besonders gerne in Regionen, die damals insbesondere aus westlicher Sicht noch als weitgehend unbekannt galten: Afghanistan, Westafrika, Lateinamerika, Osteuropa.
Ein mehrwöchiger Aufenthalt in Australien in den frühen 1980er Jahren hat die Grundlage für Traumpfade gelegt, das sein erfolgreichstes Buch werden sollte. Es ist eine Mischung aus Roman, Reportage und Reisebericht. Echte Erlebnisse und echte Personen vermischen sich hier mit Fiktion und (Selbst-)Stilisierung, wie es häufig bei Chatwin der Fall war. Roger Willemsen hat ihn deshalb einmal als eine „James-Dean-Gestalt“ mit „Hummeln im Arsch“ beschrieben, dessen liebste Beschäftigung „das Fiktiv-Werden des eigenen Selbst“ gewesen sei.
Das nomadische Element in seinem Werk wird dabei überdeutlich. Der Ich-Erzähler namens Bruce kommt aus England nach Australien. Er will die Aborigine-Kultur und insbesondere deren Traumpfade (der Originaltitel Songlines ist hier etwas einleuchtender) besser verstehen. Damit gemeint sind bestimmte Pfade quer über den Kontinent. Diese werden in Liedern besungen, deren Texte auf markante Landschaftsmerkmale verweisen und von Generation zu Generation weitergetragen werden. Die Songlines sind also konkrete Wegbeschreibungen, zugleich so etwas wie Grenzen zwischen Territorien und mythische Wege der Ahnen. Sie kartieren „eine Welt, die durch Geschichten vermessen wurde“, hat Salman Rushdie das genannt.
Bruce trifft kurz nach seiner Ankunft auf Arkady, einen Anthropologen mit russischen Wurzeln, der im Auftrag einer Eisenbahngesellschaft zwischen weißen Investoren und Ureinwohnern vermitteln soll. Es entwickelt sich eine Freundschaft basierend auf gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen und der geteilten Verwunderung über die seltsamen Menschen auf dem fünften Kontinent, zugereiste wie einheimische. „Amerika ist jung! Jung, unschuldig und grausam. Aber dieses Land ist alt. Alter Felsen! Da liegt der Unterschied! Alt, müde und weise. Und absorbierend! Einerlei, was man über ihm ausschüttet, alles wird absorbiert“, wird Bruce an einer Stelle in einem typischen Dialog von Arkady belehrt. Gemeinsam unternehmen sie Expeditionen ins Innere Australiens, wo Bruce einem Verständnis der Songlines näher kommen will.
Der Plot scheint dabei selbst geheimnisvollen, verwirrenden Songlines zu entsprechen, einschließlich mit uralter Bedeutung aufgeladener Orte, unerklärlicher Begegnungen und skurriler Wendungen. Bruce muss erkennen: Das Wesen der Songlines ist schwer zu recherchieren, schwer nachzuvollziehen und noch schwieriger zu beschreiben – nicht zuletzt, weil die Aborigines stark auf das Hüten ihrer Geheimnisse bedacht sind. Er nennt die Traumpfade schließlich eine geistige Konstruktion, „die phantastischer und ausgeklügelter war als alles auf der Erde, eine Konstruktion, die die materiellen Errungenschaften des Menschen überflüssig erscheinen ließ – und sich dennoch auf irgendeine Weise einer näheren Beschreibung entzog.“
Daraus resultiert eine etwas seltsame Form des Romans, der in der zweiten Hälfte über weite Strecken bloß Auszüge aus den Notizbüchern des Erzählers abbildet, als Sammlung eigener Beobachtungen und kluger Literaturzitate über Reisen, Wandern, Rastlosigkeit und Sesshaftigkeit. Ohnehin steht dieses Thema im Kern des Buches. Die „Frage aller Fragen“ ist für Chatwin die nach der „Natur der menschlichen Ruhelosigkeit“, wie es an einer Stelle heißt. Damit verbunden ist die Reflexion darüber, ob unser Drang zur Bewegung eher einem Fluchtinstinkt entspricht (wir bringen uns in Sicherheit, bevor ein Ort zu gefährlich wird) oder eher ein Zeichen von natürlich gegebener Aggressivität ist (wir dringen in das Territorium anderer ein und sind bereit, sie von dort mit Gewalt zu vertreiben). Es geht also um nichts weniger als das Ergründen eines (und womöglich: des wirklichen, von der Natur determinierten) Menschenbilds.
Chatwin bietet grandiose Landschaftsbeschreibungen und viele lebendige Szenen aus Pubs, Gärten, Buchläden und Aborigine-Reservaten. Er zeigt eine bei der Lektüre fast ansteckende Faszination für die nomadische Lebensweise, die er auch in vielen anderen Völkern der Erde bereits studiert hat („Je mehr ich las, umso stärker wurde meine Überzeugung, dass Nomaden der Angelpunkt der Geschichte gewesen waren“, schreibt er). Er blickt auf den Konflikt zwischen Zivilisation und Ursprünglichkeit, ebenso wie auf die Kraft der Geschichte und das Vermächtnis von Ahnen, Familien und Generationen. Es geht um das, was Menschen innerhalb ihrer eigenen Lebensspanne verändern können, und um das, was dabei konstant bleibt und überdauern wird.
Dass das Geheimnis der Traumpfade dabei letztlich nicht komplett aufgeklärt wird, ist keineswegs ein Nachteil für das Buch. Sie treten hervor als ein letztlich universelles Phänomen und als „ein Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch sein Territorium absteckte und sein gesellschaftliches Leben organisierte.“
Bestes Zitat: „Musik ist eine Datenbank, die einem hilft, seinen Weg durch die Welt zu finden.“