Cabaret Voltaire – „1974-76“

Künstler*in Cabaret Voltaire

Cabaret Voltaire 1974-76 Review Kritik
„1974-76“ versammelt einige Frühwerke von Cabaret Voltaire.
Album 194-76
Label Mute
Erscheinungsjahr 1980
Bewertung

Cabaret Voltaire haben viel erreicht in ihrer Karriere. Sie gelten als Wegbereiter von Industrial, haben dem Post-Punk die Tür für elektronische Einflüsse geöffnet und Acts wie New Order, Bauhaus oder Depeche Mode nachhaltig geprägt. 1996 wurden sie in einem Ranking als eine der 100 größten „Underground Inspirations“ der zurückliegenden 20 Jahre gezählt. Wäre es in den Anfangsjahren der Band aus Sheffield, die auf dieser Compilation dokumentiert sind, nicht so gut gelaufen, hätte ihnen aber vielleicht auch ein weiteres Geschäftsmodell zur Verfügung gestanden, wie die Musik auf 1974-76 zeigt: Stephen Mallinder, Richard H. Kirk und Chris Watson hätten ihren Sound als die akustische Entsprechung von Rorschach-Bildern verkaufen können.

Denn wie bei diesen geheimnisvollen Bildern, die in der psychologischen Diagnostik eingesetzt werden, gilt auch hier: Die Musik von Cabaret Voltaire bietet enorme Interpretationsspielräume und regt die Fantasie zu schillernden Assoziationen an – wobei es meist keine richtigen und falschen Antworten hinsichtlich der Frage gibt, was denn nun tatsächlich wahrgenommen wird.

In den hier vertretenen Songs, die zwischen gut 3 und knapp 9 Minuten lang sind und in den Anfangsjahren des Trios auf Chris Watsons Dachboden mit einem Tonbandgerät aufgenommen wurden, kann man bei Bedarf so etwas wie Insektengeräusche (Ooraseal), ein Saxofon beim Durchqueren eines Sturm in der Eiswüste (Venusian Animals) oder sich öffnende und schließende Ventile, aus denen mal mehr, mal weniger (in jedem Fall aber immer seltsamer) Klang kommt, möglicherweise platziert auf einem ein Schlachtfeld rund um Verdun, mit Funksprüchen, Explosionen, startenden Motoren und Schmerzensschreien (The Dada Man).

Beeindruckend ist dabei zum einen, wie vielfältig und futuristisch die Klangwelten auf 1974-76 sind, trotz der beschränkten technischen Möglichkeiten, die Cabaret Voltaire damals – einige Jahre, bevor sie einen Plattenvertrag unterschreiben sollten und natürlich weit entfernt von heutiger, digitaler Studiotechnik – zur Verfügung standen. Zum anderen wird deutlich, wie entschlossen dieses Trio In Quest Of The Unusual (so ein Songtitel, auch wenn man ausgerechnet hier mit dem E-Bass ausnahmsweise mal recht klar ein klassisches Instrument erkennen kann) von Beginn an war, und als wie zukunftsweisend sich dieser Sound erweisen sollte.

Doubled Delivery ist eigentlich wie gemacht, um es als Grundlage für einen Rap-Klassiker zu nehmen, oder als Musik für ein Computerspiel, das es damals noch gar nicht geben konnte. The Outer Limits würde man „Industrial“ nennen, wenn es inmitten seines stetigen An- und Abschwellens zumindest einen Hauch von Aggressivität entwickeln würde. Do The Snake ist zwar bei weitem nicht so plakativ (oder tanzbar), wie der Titel es vermuten ließe und zelebriert seine zentrale Melodie auf am Ende fast schmerzhafte Weise, erweist sich aber dennoch als der zugänglichste Track dieser Sammlung: Man ahnt, dass hier The B-52’s oder auch die Chemical Brothers gut zugehört haben.

A Sunday Night In Biot ist nicht bloß schräg, sondern atonal – meine Rorschach-Interpretation dazu ist jemand, der im Todeskampf wimmert. She Loved You schließt 1974-76 ebenso spooky wie repetitiv ab, natürlich auch mit einem Wink zu den Beatles, den schon der Songtitel andeutet, denn es kommt auch noch ein „Yeah, yeah“ in diesem Stück vor – aber bei Cabaret Voltaire, von denen es bald neues Material geben soll, ist das allenfalls ein Liebeslied aus der Unterwelt.

Die Sammlung, die erstmals 1980 bei Industrial Records auf Kassette veröffentlicht wurde und 1992 dann auch einen Release von The Grey Area Of Mute auf CD erlebte, wird jetzt zum ersten Mal als LP verfügbar sein, und zwar in limitierter Auflage auf transparentem, orangefarbenem Doppelvinyl.

Der Dada Man macht seinem Namen alle Ehre.

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Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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