Künstler | Cabaret Voltaire | |
Album | Dekadrone | |
Label | Mute | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Seit 1972 erscheint das Berliner Stadtmagazin Tip, die Zeitschrift ist damit ein Jahr älter als Cabaret Voltaire. Vielleicht liegt es an dieser Parallele, dass man in eben jenem Magazin eine der besten Beschreibungen über die Musik der Band aus Sheffield finden kann. Demnach ist dieser Sound ein „sich wiederholender Dauer-Widerhall mit atmosphärischem / psychedelischem Überbau, angesiedelt zwischen metropolitischer Schrottplatz-Atmo und surrealistischer Noir-Akrobatik (in den Texten) und hitziger Busch-Beat-Mystik“.
Natürlich hat sich der Klang des einstiges Trios, von dem mittlerweile nur noch Richard H. Kirk übrig geblieben ist, innerhalb von fast einem halben Jahrhundert permanent verändert, von Zeiten der experimentell-noisigen Beginne über die Versuche, dank Soft-Cell-Unterstützung mit den Charts zu flirten, bis zum aktuellen Status als Techno-Vorreiter. Aber viele der im Zitat benannten Elemente haben sich dabei als Konstanten erwiesen.
Bis auf die Texte (es gibt keine) findet man sich auch auf Dekadrone wieder, das auf CD und als limitierte Doppel-Vinyl-Version erscheint. Es handelt sich dabei um ein Album, das aus nur einem einzigen Track mit fast 50 Minuten Spielzeit besteht, dasselbe Konzept werden Cabaret Voltaire auch mit dem in vier Wochen folgenden BN9Drone umsetzen. Allein aus diesem Format kann man bereits drei Dinge ablesen: Kirk ist der Überzeugung, dass er immer noch eine Menge zu bieten hat. Er ist selbstbewusst genug, zunächst 26 Jahre überhaupt kein Album zu veröffentlichen (bis zu Shadow Of Fear aus 2020) und dann drei (mit durchaus herausfordernder Herangehensweise) innerhalb weniger Monate. Und er will sich immer noch weiterentwickeln und wie eh und je die Grenzen des von ihm mit erschaffenen Genres ausloten. Auch die Selbstbeschreibung aus den Anfangstagen kann man nach wie vor als gültig betrachten: „Wir setzen sehr viel moderne Technologie ein, benutzen sie aber auf eine sehr primitive Weise. Unsere Rhythmen sind überaus primitiv. Wir nähern uns dem Primitiven, indem wir Energie kanalisieren.“
Dekadrone beginnt mit der bekannten Analogie aus Applaus und Meeresrauschen, offenbart dann innerhalb einer guten Dreiviertelstunde eine erstaunliche Entwicklung mit Mini-Drone, Pulsieren, einem Alarm in der Ferne, Frequenzen aus dem All, Phasen des Wahnsinns und des Runterkommens, des Säuselns und der Irritation. Manches strahlt, anderes scheint aus dem Verborgenen zu kommen. Elemente wie den Filter, das Hochpitchen oder die Industrial-Sounds hat man natürlich schon oft gehört, aber sie funktionieren weiterhin sehr gut. Cabaret Voltaire machen hier das, was sie so gut wie fast niemand sonst beherrschen und wofür Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bernward Halbscheffel in Das neue Rocklexikon ebenfalls eine schöne Definition gefunden haben: „abstrakte Tanzmusik der Unzufriedenheit, Verweigerung und Zerstörung“.