Autor | Carson McCullers | |
Titel | Das Herz ist ein einsamer Jäger | |
Verlag | Süddeutsche Bibliothek | |
Erscheinungsjahr | 1940 | |
Bewertung |
Eine Kleinstadt in Georgia, Ende der 1930er Jahre: John Singer ist taubstumm und arbeitet als Graveur in einem Juweliergeschäft. Er teilt sich eine Wohnung mit seinem besten Freund, dem etwas trägen und ebenfalls taubstummen Spiros Antonapoulos. Als Spiros nach einer Krankheit verhaltensauffällig und schließlich in eine Irrenanstalt gebracht wird, sucht sich John Singer eine neue Herberge. Er mietet sich bei der Familie des invaliden Uhrmachers Wilbur Kelly ein, die froh ist, ihr spärliches Einkommen somit aufbessern zu können.
Durch die neue Wohnung und seine regelmäßigen Mahlzeiten im „Café New York“ wird der bis dahin sehr zurückgezogen lebende Singer nach und nach zum Vertrauten für vier weitere Personen aus der Stadt: Biff Brannon, der Besitzer des Cafés, sucht seine Nähe, ebenso Jake Blount, ein Stammgast, der im trunkenen Zustand gerne revolutionäre kommunistische Reden schwingt. Auch Mick Kelly, die 13-jährige Tochter seiner Vermieter, ist fasziniert von Singer und freut sich, wenn sie ihn in seinem Zimmer besuchen und dort Radio hören darf, weil sie ohnehin ständig Musik im Kopf hat. Benedict Copeland, ein schwarzer Arzt, dessen Tochter als Hausmädchen bei den Kellys arbeitet, hat zunächst ein medizinisches Interesse an dem taubstummen Mann, aus dem dann ebenfalls eine große Verbundenheit erwächst.
Der Wirt Biff Brannon erzählt an einer Stelle seiner Frau von der faszinierenden Fähigkeit des schwadronierenden Jake Blount, „’ne Unmasse von Einzelheiten zusammenzutragen, bis man was ganz Wirkliches bekommt“. Genau dieses Phänomen lässt sich in Das Herz ist ein einsamer Jäger erkennen. Carson McCullers erzählt aus dem Alltag von John Singer, sie reiht scheinbar Banalitäten aneinander. Und doch entsteht ein Roman voller Schwermut und Wahrheit, der es in mehrere Listen der besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts geschafft hat. Daniel Haas attestierte diesem Werk in der FAZ angesichts einer Neuveröffentlichung 2011 treffenderweise sowohl die „Wucht der politischen Streitschrift“ und eine „aus der Geschichte herandrängende Aktualität“ als auch einen erschütternd klaren Blick auf die „Verlorenheit des verwalteten Menschen“.
Das Herz ist ein einsamer Jäger fängt sehr plastisch das Flair der Südstaaten ein, das auch in den Romanen von Truman Capote, John Steinbeck oder Tennessee Williams so präsent ist, ebenso wie die in dieser Ära unverkennbaren Missstände: Rassismus, Armut, Korruption, Gewalt. Die 1917 in Georgia geborene Carson McCullers ist aber – erst recht für die Zeit der Veröffentlichung ihres Debütromans – noch radikaler in den Schlussfolgerungen, die sie daraus zieht, und zwar weit über die Südstaaten und die 1930er Jahre hinaus. Der Roman zeigt die Systematik von Ausbeutung, die trügerischen Hoffnungen, nicht zuletzt die Funktion der Religion als Deckmantel, gegebenenfalls auch Rechtfertigung, für all das. Das Buch der damals 23-jährigen Autorin wurde zur Sensation und zum Bestseller. Viele betrachten Das Herz ist ein einsamer Jäger auch heute noch als den Höhepunkt im knappen Werk der Schriftstellerin, für die Krankheit und Behinderung nicht nur in diesem Roman, sondern auch in ihrem eigenen Leben eine prägende Rolle spielten, bis sie 1967 starb.
Der klügste Schachzug dabei ist natürlich das Paradox, mit John Singer einen Taubstummen in den Mittelpunkt zu stellen. Er kann Lippenlesen und begegnet seinen Mitmenschen freundlich, ausgeglichen und aufgeschlossen. Auf sie wirkt er, als sei er mit sich im Reinen, was in diesem Ensemble einem Alleinstellungsmerkmal gleichkommt. So wird er für Mick Kelly, die zweite Hauptfigur des Romans, Biff Brannon, Jake Blount und Benedict Copeland nicht nur zu einem dankbaren und geduldigen Publikum, sondern zu einem Hoffnungsträger. Ausgerechnet bei dem Mann, der nichts hören und nichts sagen kann, fühlen sie sich an der richtigen Adresse, um über ihre Probleme zu sprechen und sich Rat zu holen – dass er niemals widerspricht und auch nicht in der Lage ist, seine eigenen Sorgen (wie das Leiden an seiner Einsamkeit und die Sehnsucht nach seinem griechischen Freund) zu artikulieren, ist ihnen natürlich willkommen.
Diese dysfunktionale Kommunikation auf der persönlichen Ebene ist nicht die Ursache für die hier beschriebenen gesellschaftlichen Missstände, sie finden aber ihre Entsprechung darin. Für alle, die das Vertrauen von Mr. Singer suchen, bietet der Roman auch Antworten an, etwa das Engagement in einer Gewerkschaft für Blount, die Welt der Musik für Mick, den Aufruf zum Protest bei Dr. Copeland oder das Ausbrechen aus dem Hamsterrad seines Cafés für Biff. Aber sie alle sind dazu nicht in der Lage, auch nicht – mit Ausnahme von Mick – zu Freundschaft und Solidarität jenseits der eigenen marxistischen, anti-rassistischen, musisch-kreativen oder persönlichen Agenda. Es fehlt ihnen an Mut und Verständnis, diese umzusetzen, es fehlt aber noch mehr an Rahmenbedingungen, die dafür geeignet wären. Gerade diese Kombination macht die Hoffnungslosigkeit in Das Herz ist ein einsamer Jäger so erdrückend: Alle Figuren hier sind Außenseiter und doch typische Menschen dieser Stadt. Alle sind verantwortlich und egoistisch, trotzdem sind sie eindeutig mehr Opfer als Täter. Denn sie erleben ein System der Ungerechtigkeit, das schließlich selbst bei den wohlwollendsten Menschen zu Verbitterung führt.
Das beste Zitat zeigt eine Erkenntnis von Mick am Ende des Buches: „Die ganze Zeit hatte sie eine Art Wut in sich. Nicht so eine Wut, wie man sie als Kind hat, die schnell wieder verraucht – nein, eine andere Wut. Nur gab es eigentlich nichts, worüber man wütend sein könnte. (…) Ihr war, als hätte man sie betrogen. Nur dass niemand sie betrogen hatte. Also konnte man auch seine Wut an niemandem auslassen. Und dennoch – trotz alledem hatte sie dieses Gefühl: betrogen.“