Künstler | Cassels | |
Album | The Perfect Ending | |
Label | Big Scary Monsters | |
Erscheinungsjahr | 2019 | |
Bewertung |
Chipping Norton in der Nähe von Oxford, die Heimatstadt von Cassels, hat durchaus eine stolze musikalische Geschichte. Keith Moon, der legendäre Schlagzeuger von The Who, hat dort mal ein Hotel besessen. Simon Nicol, Gründungsmitglied von Fairport Convention, lebte dort. Es gibt seit 1904 ein Musikfestival in der Stadt, nicht zuletzt stand in Chipping Norton lange Zeit ein gefragtes Tonstudio, in dem Welthits wie Baker Street von Gerry Rafferty, Perfect von Fairground Attraction oder In The Army Now von Status Quo aufgenommen wurden.
Als Jim und Loz Beck sich als Cassels zusammentaten, hatten sie allerdings keineswegs vor, die Tradition ihrer Heimatstadt weiterzuführen. „Anfangs war Musik für uns nur eine Ablenkung von der Langeweile, mitten im Nirgendwo zu leben. Als Teenager haben wir uns in unserem Schlafzimmer geschlagen, weil wir eigentlich nichts anderes zu tun hatten“, sagt Jim Beck, der ältere der beiden Brüder, der für Gitarre und Gesang zuständig ist. „Dieses Gefühl von Langeweile hat uns dazu bewogen, das Haus zu verlassen, sobald wir alt und fähig genug waren. Doch ironischerweise hatte die ländliche Umgebung unserer Kindheit trotzdem einen großen Einfluss auf das neue Album gehabt. Ich würde wahrscheinlich so etwas sagen wie: ’Es fühlt sich an, als hätten wir den Kreis geschlossen’ oder ‚wir sind zu unseren Wurzeln zurückgekehrt‘, wenn diese Sätze nicht so abgedroschen und schrecklich wären.“
Was er damit meint, zeigt The Perfect Ending sehr schnell. Cassels probieren hier wieder alles aus, was ihnen in den Sinn kommt, ohne Rücksicht auf Erwartungshaltung und Genregrenzen. Stücke wie das spannende und kraftvolle Instrumental Melting Butter stehen neben Momenten wie In The Zoo They Feed Him Nuts, das Parallelen zu The Streets erkennen lässt, nicht nur wegen des Sprechgesangs: Die Musik nutzt bei Cassels zwar ganz andere Mittel und ist viel abstrakter ist, aber auch sie sind, ähnlich wie Mike Skinner, feine Beobachter, die zugleich besonders gerne aus einer Position als Alien berichten (hier: ein minderjähriges Mädchen, das Opfer einer Vergewaltigung wurde, und sich dafür auch noch Schuldzuweisungen anhören muss).
All The St. John‘s Wort I The World klingt, als hätte jemand Bloc Party mächtig sauer gemacht und ist typisch für die Intelligenz, die für Cassels schon beim Debütalbum so prägend war. Das Lied bietet zugleich Nabelschau und Selbstkritik. Jim Beck erzählt vom schmalen Grat zwischen Introspektive, Selbstreflexion und Egozentrik. Er weiß: Auch wenn er vieles scheiße findet und vieles radikal ändern will, dann tut er das im globalen Maßstab doch immer noch aus einer privilegierten, bequemen Position heraus.
Diese Position der Nichtzugehörigkeit hat das Selbstverständnis des Duos geprägt. „Ich denke oft, wir passen nirgendwo hin. Manchmal fühlt es sich so an, als wären wir entweder zu viel oder zu wenig von allem. Zu wanky und arty für eine Rockband, zu heavy und aggressiv für eine Indie- Band. Zu einfühlsam und wortreich für eine Punk-Band, nicht cool oder repetitiv genug für eine Post-Punk-Band. Nicht technisch genug für Math-Rock und viel zu britisch für eine Grunge-Band. Je nachdem, wie du es betrachtest, macht das unsere Band entweder super interessant und originell oder einfach nur total beschissen“, sagen sie.
The Perfect Ending unterstreicht, dass „super interessant“ natürlich die zutreffende Schlussfolgerung ist. A Snowflake In Winter eröffnet das Album energisch, stürmisch und wild, zur ersten Strophe wird der Song dann reduziert, wohl auch wegen des Eingeständnisses des Ich-Erzählers: Ich halte mich für einen Idealisten, neige aber so sehr wie alle anderen Menschen dazu, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Wenn es hart auf hart kommt, schmelzen meine Ideale wie eine Schneeflocke. „I like to think that I’m a deep thinker / and I’m pretty sure that I’m a person with conviction / but in reality I know / I’m a snowflake in winter / blown along on the wind of the latest liberal opinion“, lauten die ersten Zeilen, bevor sich im Refrain wieder eine große Härte einstellt.
The Queue At The Chemists glänzt mit äußerst innovativer Gitarrenarbeit und entwickelt einen Sound zwischen filigran, eingängig und zerstörerisch. „How can I be expected to care / about an abstract and nebulous problem like a dying planet?“, fragen Cassels darin, später folgt das Eingeständnis: „I will seethe at inconveniences as long as I’m able / and try to forget all the famine until it touches my table.“ Auch da gehen Kritik und Selbstkritik wieder eine unauflösliche Verbindung ein, und gerade ihr Ringen auch mit sich selbst macht es so wirkungsvoll, wenn Cassels (wie in der zweiten Hälfte des Albums, die durchweg Umweltzerstörung zum Thema hat) die Finger in die Wunden legen. Sie wissen: Wir waren als Menschheit in der Lage, Konzepte wie Moral, Ethik und Empathie zu entwickeln und als Fundamente unseres Zusammenlebens zu postulieren, aber wir sind noch besser dazu in der Lage, sie über Bord zu werfen, wann immer wir einen persönlichen Vorteil daraus ziehen können.
„In vielerlei Hinsicht haben wir das Gefühl, eine paradoxe Identitätskrise zu haben“, sagt Schlagzeuger Loz Beck passend dazu. „Unsere Persönlichkeiten sind in unserer Musik völlig verwurzelt und ich denke, unsere Songs haben eine sehr unterschiedliche Identität, aber diese Identität passt nicht gut zu einem der vordefinierten Labels, nach denen die moderne Musik sortiert ist. Es kann manchmal sehr frustrierend sein – niemand mag es, sich als Außenseiter zu fühlen – aber ich denke, wenn wir versuchen würden, nur ein Element unseres Sounds bewusst zu verändern, damit sie von mehr Menschen gemocht oder verstanden wird, würden wir uns selbst und das was mir machen sehr schnell hassen.“ Im musikalisch über weite Strecken vergleichsweise konventionellen Mink Skin Coat übertragen sich solche Zweifel und Skepsis aufs Zwischenmenschliche („I live in hope, I live in fear / regretting letting you get so near“). The Leaking Ark thematisiert Lebensmittelindustrie und Massentierhaltung und nutzt dabei lauter Tiere aus Kinderfilmen als Protagonisten. Die Schlussfolgerung angesichts unserer unstillbaren Sehnsucht danach, alles auf dem Planeten möglichst maximal für uns auszubeuten, lautet: „The human race is fucking disgusting.“
Auch der Titelsong nimmt auf fast masochistische Weise auf unser aller Egoismus Bezug. The Perfect Ending beginnt mit Vogelzwitschern und wird dann komplex, mutig und geradezu abenteuerlich als Reflexion über den Moment, wenn die Menschen sich selbst ausgerottet haben und die Erde wieder den Kreaturen überlassen, die darin nicht so erfolgreich sind. „Für mich ist die Auslöschung der Menschheit ein Happy End (obwohl wir uns dazu entschieden haben, das Album aufgrund der offensichtlichen Konnotation mit heruntergekommenen Massagesalons nicht The Happy Ending zu nennen …)“, sagt Jim Beck. „Wenn man mal über unseren Beitrag zum gesamten Planeten nachdenkt, haben wir es absolut verdient zu sterben. Wir sind die einzige Spezies, die intelligent genug ist um zu erkennen, dass wir uns selbst und die Welt in der wir leben, töten, und gleichzeitig zu gierig sind, um etwas dagegen zu unternehmen. Die Vorstellung, dass wir nur ein Virus sind, die Erde jetzt unter Fieber leidet und wir schließlich von einem immensen planetaren Immunsystem ausgeschwitzt werden, ist für mich ein beruhigendes Konzept. (…) Alles andere wird irgendwann nachwachsen. A perfect ending.“
Auf diese Idee verweist auch der Album-Abschluss The Woman In The Moon, das beinahe ein Roman in Liedform wird. Die Frau im Mond kommt darin auf die Erde und findet nur noch einen zerstörten, öden, verwüsteten Planeten vor. Trotzdem wird der Song fast ein optimistisches Ende, weil das, was sie beobachten kann, neues Leben ist. „Tiny seeds! Tiny sprouts! Astounded, dumbfounded, new life underground!“ Cassels lassen indes keinen Zweifel daran, dass es besser für den Planeten wäre, wenn sich dieses Leben nicht zur Spezies des Homo sapiens weiterentwickelt – und genau das macht The Perfect Ending so erschütternd gut.