Cees Nooteboom – „Allerseelen“

Autor Cees Nooteboom

Cees Nooteboom Allerseelen Kritik Rezension
Berlin spielt eine heimliche Hauptrolle in Cees Nootebooms „Allerseelen“.
Titel Allerseelen
Verlag Süddeutsche Bibliothek
Erscheinungsjahr 1998
Bewertung

Kann ein historischer Roman in einer Zeit spielen, die beim Erscheinen des Buches erst wenige Jahre zurück liegt? Im Fall von Allerseelen geht das sehr wohl. Denn Cees Nooteboom reflektiert hier erstens immer wieder die Geschichte als „Labyrinth aus Egos, Schicksal, Absicht, Zufall, Gesetzmäßigkeiten, Naturerscheinungen und Todestrieb“. Zweitens ist ihm genau bewusst, wie einmalig und bedeutend die Situation ist, in der er seine Handlung ansiedelt, nämlich die 1990er Jahre in Berlin. Deutschland nach dem Fall der Mauer und Europa nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs stehen ganz neue Möglichkeiten offen, zudem stellt die Zeitenwende zwangsläufig die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten.

Es gibt in Allerseelen einen auktorialen Erzähler, aber die Figur, aus deren Perspektive wir diese Gedankenspiele erleben, ist Arthur Daane, ein 44-jähriger Dokumentarfilmer aus den Niederlanden. Er hat viel gesehen von der Welt (vor allem Krisenregionen), jetzt ist er in Berlin halbwegs heimisch geworden. Sein Leben als Globetrotter, seine Vorliebe für die deutsche Haupstadt und die Tatsache, dass er aus einem Nachbarland stammt (all diese Eigenschaften teilt Arthur Daane mit Cees Nooteboom, der lange als Reiseautor gearbeitet und den Mauerfall vor Ort miterlebt hat), prädestiniert ihn für einen analytischen Blick auf die Deutschen, denen er mit großer Sympathie begegnet. Er porträtiert sie als ein ernstes Volk, das sich seiner selbst nie gewiss sein kann, das sich ständig hinterfragt, auch getrieben von Schuldgefühlen. „Sichtbar waren diese Dinge meist nicht, doch dem, der ein seismographisches Registriervermögen besaß, konnte nicht entgehen, dass unter all diesem ostentativen Wohlstand, all dieser glänzenden Gediegenheit eine Unsicherheit nagte, die zwar von den meisten geleugnet oder unterdrückt wurde, in den unerwartetsten Augenblicken aber doch in Erscheinung treten konnte.“

Berlin spielt eine sehr prominente Rolle in diesem Roman, ist es doch die Metropole, die besonders geprägt wurde von einem Jahrhundert voller Grausamkeiten, die in dieser Stadt zwar kürzlich aufgehört haben, in anderen Gegenden der Welt aber noch immer genauso brutal zu erleben sind. Arthur Daane streift durch diese Stadt, weil es hier auch in Details und vermeintlichen Banalitäten so viel zu entdecken gibt, was auf den großen historischen Kontext verweist, den er stets im Sinn hat. An einer Stelle muss er sich vorwerfen lassen: „Wo ein anderer Zeitung liest, liest du Geschichte. Bei dir wird eine Zeitung gleich zu Marmor.“ Zugleich nutzt er dieses Flanieren zur Recherche, denn „er machte einen Film, auf den niemand wartete. (…) Dieser Film, das wusste er genau, würde etwas über die Welt zum Ausdruck bringen müssen, wie er, Arthur Daane, sie sah. Aber er würde auch in ihm verschwinden müssen. Dass dieser Film mit Zeit, mit Anonymität, mit Verschwinden und mit, auch wenn er das Wort hasste, Abschied zu tun haben würde, war nichts, wonach er gesucht hatte, es war einfach so, schrieb sich selbst vor.“ So ähnlich wie die Szenen, die Arthur für diesen Film sammelt, montiert der Autor in Allerseelen einzelne Begegnungen, Episoden und Erinnerungen.

Dass die Motive, die der Fimemacher mit seiner Kamera einfängt, häufig im Halbdunkel liegen und noch häufiger flüchtig und vergänglich sind, verweist recht eindeutig auf das Schicksal von Arthur Daane: Seine Frau und sein Sohn sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Unverkennbar ist dies auch der Bezug zum Titel des Romans: Allerseelen ist der Tag, an dem Katholiken ihrer Verstorbenen gedenken. Natürlich ist damit die Familie gemeint, die Daane verloren hat, doch genauso geht es in diesem Buch um die Opfer von Kriegen, letztlich um das Sterben insgesamt, das Geschichte erst möglich macht. Wie können wir es wagen, ihnen (den eigenen Angehörigen und all den Millionen, die unserer Gegenwart den Weg bereitet haben) auch nur eine Sekunde lang nicht zu gedenken? Wie können wir es zugleich schaffen, uns von dieser Last zu befreien, um unser eigenes Leben zu gestalten, unsere eigene Geschichte zu schreiben? Das sind Nootebooms zentrale Fragen.

Sie führen leider dazu, dass das Buch in der ersten Hälfte oft konstruiert wirkt, auch ein bisschen prahlerisch. Dieser Roman ist für Nooteboom unverkennbar ein Medium und Vehikel, um allerlei kluge Betrachtungen über andere kluge Bücher zu formulieren, von Plutarch und Sophokles über Hildegard von Bingen bis zu Hegel und Nietzsche. Passend dazu gibt es mehrfach ein Intermezzo eines Chors, der von noch höherer Warte aus auf das Geschehen blickt. Zu dieser Bildungsbeflissenheit passt das Ensemble aus lauter akademischen, polyglotten Figuren (ein Philosoph, eine Physikerin und ein Bildhauer zählen zum engsten Freundeskreis des Filmemachers), das auch einen Hang zur Selbstgefälligkeit hat und vor allem wenig authentisch wirkt. Aus der Ferne gesellt sich Erna in diese Runde, die beste Freundin der Hauptfigur, die immer wieder ihre Mahnungen und entwaffnend ehrlichen Einschätzungen platzieren kann, manchmal am Telefon, manchmal auch bloß vorweggenommen in Arthur Daanes eigenen Gedanken.

Erst, als zu der Liebe zur Geschichte auch eine Liebesgeschichte kommt, wird Allerseelen wirklich überzeugend. Als Daane der Geschichtsstudentin Elik Oranje begegnet („Jemand (…) hatte ihn aus der Ruhe seiner langen Trauer in eine demütigende Unruhe gestoßen“, beschreibt Nooteboom diesen Hallo-Wach-Effekt) verschwindet der Makel des allzu abstrakten Über-den-Dingen-Stehens in diesem Werk, denn Elik entspringt nicht dem sonst vorherrschenden Milieu und entspricht nicht der schwaflerischen Selbstgefälligkeit, die es hier auf den ersten 150 Seiten mitunter gibt. Die junge Frau ist „jemand, der sich in sich selbst einschließen konnte“, denn sie hat ein Trauma erlebt, das sie heimatlos und vor allem vorsichtig gemacht hat. Erst, als Arthur Daane ihre Nähe sucht und ihn dabei seine (zweite) Tragödie ereilt, ist Allerseelen wirklich bewegend und ergreifend.

Bestes Zitat: „Wir sind die größten Helden der Geschichte, wir müssten bei unserem Tod alle dekoriert werden. Keine Generation hat je so viel wissen, sehen, hören müssen, Leid ohne Katharsis, Scheiße, die man in den neuen Tag hineinschleppt.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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