Künstler*in | Chai | |
Album | Wink | |
Label | Sub Pop | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung | Foto oben: (C) Yoshio Nakais / Sub Pop |
Rund 2000 Kilokalorien sollte ein erwachsener Mensch pro Tag zu sich nehmen, um seinen Energiebedarf zu decken. Etwa sieben Jahre unseren gesamten Lebens verbringen wir im Durchschnitt mit dem Zubereiten und Verspeisen von Mahlzeiten. Es ist also kein Wunder, dass Essen gelegentlich auch in Popsongs thematisiert wird, Lieder wie Herbert Grönemeyers Currywurst, die Banana Pancakes aus dem Hause Jack Johnson oder Digsy’s Diner von Oasis (in dem Liam Gallagher das Wort „lasagne“ so wunderbar in die Länge zieht wie geschmolzenen Käse auf einer Gabel) sind prominente Beispiele.
Chai bieten auf ihrem dritten Album (nach dem Debüt Pink 2017 und dem Nachfolger Punk aus 2019) bei großzügiger Zählweise gleich vier Tracks aus diesem Kontext. Wink macht dabei schnell klar: Das liegt nicht daran, dass die Zwillinge Mana (Gesang und Tasteninstrumente) und Kana (Gitarre) sowie Schlagzeugerin Yuna und Bassistin/Texterin Yuuki besonders verfressen wären. Sondern schlicht daran, dass die Band aus Japan alles auf der Welt durch die Pop-Brille sieht, also auch Essen.
Lieder können bei Chai also eine bestimmte Geschmacksrichtung einnehmen wie im skizzenhaften Album-Abschluss Salty, den Mana passenderweise in ihrer Küche geschrieben und aufgenommen hat. Sie bezeichnet es als ein Stück, in dem es darum geht, „sich an einer Erinnerung festzuhalten und das mit einem Geschmack zu verbinden. So, wie wenn man in einen Reis-Ball beißt, das Salz schmeckt und sofort eine ganz bestimmte Erinnerung geweckt wird.“ Auch in der Single Maybe Chocolate Chips wird Essen personifiziert beziehungsweise Empfindungen werden vermahlzeitet. Yuuki betrachtet das Stück als Liebeslied an ihre Muttermale. „Wenn die Leute ihre Muttermale als Schokoladenchips betrachten würden, würden sie sie vielleicht positiver betrachten“, lautet ihre Theorie. Das Quartett, hier ergänzt um Rapper Ric Wilson aus Chicago, den Chai 2019 beim Pitchfork Music Festival kennengelernt haben, macht daraus einen geheimnisvollen Sound wie einen verfremdeten G-Funk.
It’s Vitamin C ist ein weiterer Song mit Bezug zu (Bestandteilen von) Nahrungsmitteln und lässt erahnen: Irgendwo unter all diesen Gimmicks und Effekten schlummert eine ziemlich elegante Klavierballade. Auch der Auftakt von Wink steht bereits im Zeichen der Leckereien: Den Spruch Donuts Mind If I Do entdeckten die Japanerinnen auf einem Schild in einer Hotellobby, wo man sich großzügig bis hemmungslos an Gebäck bedienen konnte – und erkannten auch darin einen Bezug zu ihrer Musik: „Bei Chai ging es schon immer darum, sein Leben frei zu gestalten und zu tun, was man will“, sagt Yuuki. Das Lied wird sanft und schick in einem Easy-Listening-Sinne und zeigt eine Eigenschaft, die man hier immer wieder erkennen kann: Alles ist künstlich, aber doch warm. Die Songs können plakativ sein, aber auch ungewöhnlich.
Noch immer wirkt der Mix aus japanischen und englischen Zeilen in Kombination mit einem sehr ausgeklügelten Sound verspielt und niedlich, man kann das im Quasi-Schlaflied Wish Upon A Star erkennen, in Pink (feat. Mndsgn) mit der zentralen Zeile „Pink is the color of the future“ oder in Karaage, das reduziert bleibt und trotzdem deutlich macht, wie viel Liebe zum Detail darin steckt. Dass alles etwas introspektiver und persönlicher wirkt als auf den beiden Vorgängern, hat dabei offensichtlich auch mit den Folgen von Covid zu tun: Während des Lockdowns mussten die Musikerinnen ihre Ideen in Videokonferenzen austauschen und alles zuhause via Garageband selbst aufnehmen. „Dieses Album hat uns gezeigt, dass wir zu viel mehr imstande sind“, sagen Chai, die zuvor schon mit Whitney und Mac DeMarco auf Tour waren.
Miracle klingt nun mit seinem quirligen Eighties-Pop, als käme Madonna nicht aus Michigan, sondern aus Matsuyama, End lässt an eine japanische Version der Beastie Boys denken, das sehr kurzweilige Ping Pong thematisiert tatsächlich Tischtennis, mit Computerspiel-Ästhetik und einer bewusst naiven Heiterkeit im Refrain, wie man das etwa von Saint Etienne kennt. Nobody Knows We Are Fun beschreibt die Band selbst als „eine Mischung aus Schreien und dem Versuch, süß und sexy zu sein“. Es geht darum, von den Jungs wahrgenommen zu werden, und zwar auf eine sehr intelligente Weise. Auch hier bedienen Chai keine Klischees, sondern spielen damit. Dazu passt die Erklärung, die sie für den Albumtitel liefern: „Ein Mensch, der zwinkert, ist ein Mensch mit einem reinen Herzen, der flexibel lebt, der tut, was er will. Ein Mensch, der zwinkert, ist ein Mensch, der frei ist.“
Die Single Action blickt aus der japanischen Perspektive auf die „Black Lives Matter“-Proteste in den USA. „Zu sehen, wie die Welt während der Proteste zusammenrückte, hat mich wirklich bewegt“, sagt Yuuki. „Ich wollte diesen Song dem Jahr der Aktion widmen.“ Der dazugehörige Track wirkt wie eine Disco aus dem Metaverse, in dem Avatare zu Musik tanzen, die von Avataren gemacht wurde – und man als Mensch aus Fleisch und Blut zuimindest höchst neugierig wird, wie es wohl sein könnte, dürfte man dabei sein.