Autor*in | Christian Kracht | |
Titel | Eurotrash | |
Verlag | Kiepenheuer und Witsch | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung | Foto oben: Sonyuser auf Pixabay |
Christian Kracht ist nicht unbedingt als Autor bekannt, der für seinen Humor gefeiert wird. Bei seinem Debütroman Faserland (1995) erkannten die Kritiker*innen vielmehr einen arroganten Dandy, zuletzt wurde Die Toten (2016) für „raffinierten Realismus“ (taz) oder „preziöse und präzise Sprache“ (Die Zeit) geschätzt, bei Imperium (2012) gab es gar Rassismus-Vorwürfe. In seinem sechsten Roman Eurotrash baut er allerdings drei sehr subtile Pointen ein, bevor die Geschichte auf Seite 11 der Hardcover-Ausgabe überhaupt beginnt.
Eurotrash erzählt vom Besuch eines Schriftstellers aus wohlhabender Familie in seiner alten Heimat. Er ist nach Zürich gekommen, um seine Mutter zu sehen. Es ist eher ein Pflichttermin als eine Herzensangelegenheit. Die Mama ist 80 Jahre alt, hat Demenz und und einen künstlichen Darmausgang, nimmt so viele Schmerzmittel, dass sie wahlweise resistent wirkt oder im Morphin-Rausch seherische Fähigkeiten entwickelt. Übertroffen wird ihre Gebrechlichkeit noch von ihrer Exzentrik: Sie wirft mit Geld um sich, hortet Pelzmäntel und Schuhe, die sie nie trägt, verflucht ihre Haushaltshilfe und macht sich lustig über die Welt und ihre eigene Dekadenz. Aus dem Besuch bei ihr wird eine mehrtägige Rundreise durch die Schweiz.
Eine der drei Pointen findet sich dabei auf Seite 6 von Eurotrash. Dort findet sich der Hinweis: „Die Arbeit an diesem Roman wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt.“ Das ist insofern interessant, weil das Geburtsland von Christian Kracht in diesem Werk denkbar schlecht wegkommt. Egal ob Zürich, Genf oder das Berner Oberland: An vielen Stellen macht sich der Autor über die Schweiz lustig und lästert ausgiebig über seine Landsleute, denen er vieles attestiert, aber keineswegs „Kultur“.
Ähnlich doppeldeutig wirkt nach Lektüre von Eurotrash die Widmung, die er auf der folgenden Seite platziert hat. Kracht widmet das Buch vier Frauen in seiner Familie (Mutter, Schwester, Frau und Tochter) – und zeigt auf den folgenden gut 200 Seiten, wie belastend, zersetzend, ja pervers das Konzept „Familie“ sich anfühlen kann. Sein Ich-Erzähler thematisiert im Gespräch mit der Mutter den unbelehrbaren SS-Opa, den Vater als Sozialdemokrat, der die Arbeiterklasse vergessen hat, und Missbrauch über Generationen hinweg. Seine Familie hat Kunstsinn, Geld und prominente Freund*innen angehäuft, vor allem aber Schuld und Trauma. Beim Ich-Erzähler manifestiert sich das in schlechtem Gewissen und dem Gefühl von Fremdheit.
Er spricht anfangs ohne jede Liebe über die eigenen Vorfahren und Angehörigen, in einem kaltblütigen, brutalen Ton, selbst im Angesicht der sterbenskranken Mutter. Er zeichnet das Bild einer „zutiefst gestörten Familie“ mit „Abgründen, die tiefer und abgründiger und elendiger nicht sein konnten“, etwas später heißt es: „Mir fehlte also die Erklärung des größeren Zusammenhangs der Umstände meiner Familie. Es war, als lief ich jahrzehntelang am Rande enormer Bosheiten mit und könne sie nur nicht erkennen, als steckten innerhalb meiner Vermutungen nur weitere Vermutungen, als sei ich von einer Krankheit des morphischen Feldes befallen, einer grausamen Niedertracht, die aus der Vergangenheit hochstrahlte.“ Die Mama ist nicht weniger rücksichtslos. „Du bist einfach nicht ganz bei Trost. (…) Deine infame Seelenkälte wird nur noch von deiner Ignoranz übertroffen. Dass so etwas mein Sohn ist, kaum zu glauben eigentlich“, wirft sie ihm an einer Stelle an den Kopf.
Seinen größten Witz hat der 1966 geborene Autor aber bereits auf dem von Håkan Liljemärker gestalteten Einband platziert. „Christian Kracht“ steht dort in roten Perpetua-Buchstaben, und das Spiel mit der Autor-Rolle wird das prägendste Element von Eurotrash. Der Ich-Erzähler heißt ebenfalls Christian Kracht, er betont aber, dass er nicht identisch mit dem Autor ist, er betont auch, dass das Geschehen nicht Realität ist, sondern Erzählung. Es gibt etliche Bezüge auf Faserland, einmal gibt sich der Erzähler als Daniel Kehlmann aus, einmal spielt der Taxifahrer, der Mutter und Sohn kutschiert, mit dem Gedanken, selbst ein Buch über das Erlebte während dieser Reise zu schreiben.
Im Kern von Eurotrash steht damit das Räsonieren über das Schreiben und die Autorposition. Kracht fragt: Warum erzählen wir? Was erzählen wir? Was davon stimmt? Und vor allem: Was erzählen wir nicht und warum? Er nutzt die Autofiktion dabei nicht nur als spielerisches Elemente („Es war, als ob ich aus meinem Gehirn gefahren wäre und als Äther einen Spaziergang unternommen hätte (…) und als sei es mir dadurch möglich geworden, allanwesend zu sein, was ich ja im Endeffekt sowieso war, in meiner Geschichte“), sondern auch zur Selbstkritik, zu einem scharfen Blick auf die Versäumnisse, Privilegien und Wohlstandverwahrlosung seines Erzählers, die vielleicht auch seine eigenen sind.
Dazu gehört auch der Hinweis auf die deutsche und europäische Schuld, nicht nur im Hinblick auf den eigenen Kontinent. Das Namedropping nervt zwar gehörig (die hier geschilderte Kracht-Familie ist mit wichtigen Intellektuellen ebenso verbandelt wie mit Wirtschaftsgrößen und Hochadel), aber erweist sich zugleich als hilfreich, um Fallhöhe zu schaffen und die Ausnahmesituation herauszustellen, in der sich der Ich-Erzähler befindet. Vor allem aber gelingt so eine elegante Verknüpfung der persönlichen Biographie mit der deutschen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. „Nein, ich war nicht sprachlos. Ich schwieg einfach lieber, wie alle immer geschwiegen hatten in meiner Familie, wie alle lieber alles heruntergeschluckt und verborgen und geheimgehalten hatten, ein ganzes totes, blindes, grausames Jahrhundert lang“, heißt es beispielsweise.
Ein großer Pluspunkt ist auch, wie in dieses durchaus auch spannende Quasi-Roadmovie nach und nach so etwas wie Annäherung und Wärme einsickert („Sie war eigentlich eine ganz außergewöhnliche Person. Und wenn sie nicht meine Mutter gewesen wäre, hatte ich gedacht, hätte ich sie vielleicht gerne kennengelernt“, räumt der Ich-Erzähler irgendwann ein), die jedoch nie so groß wird, dass eine Versöhnung möglich wäre. Im Gegenteil: Als auch humorvolle Sticheleien und eine auf gemeinsamen Erinnerungen basierende Vertrautheit zwischen diesen beiden enorm faszinierenden Figuren erkennbar werden und die Situation weniger angespannt wirkt, fällt es ihnen umso leichter, noch ein paar grausame Wahrheiten in aller Klarheit auszusprechen und noch ein paar Leichen aus dem Keller ans Licht zu zerren.
Bestes Zitat: „Meine Güte, dieses Leben, was für ein perfides, elendes, kümmerliches Dramolett es doch war.“