Künstler | COIN | |
Album | Dreamland | |
Label | AWAL | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
Eine ganz einfache Idee ist das, aber mit wirklich erstaunlichem Effekt: Für die Sound & Mind Sessions in ihrer Heimatstadt Nashville haben COIN das Lied Crash My Car vom aktuellen Album Dreamland eingespielt. Die drei Bandmitglieder sind in der Mitte des Studios platziert, rund um sie herum steht ein Chor aus 75 Fans und singt das Lied mit. Das zeigt zum einen, wie euphorisierend die Musik von Chase Lawrence (Gesang, Keyboards), Ryan Winnen (Schlagzeug) und Joe Memmel (Gitarre) selbst in einem so reduzierten Setting sein kann, wie toll man dazu (innerhalb eines einzigen Songs) innbrünstig singen, ausgelassen tanzen oder heimlich träumen kann. Man sieht Mädchen (es sind fast nur Mädchen), die aus voller Seele diesen hymnischen Refrain trällern, wild hüpfend die Hände in die Luft recken oder die Augen schließen und ihre Hand aufs Herz legen.
Zum anderen kommt dieses Format dem Ideal sehr nahe, das COIN für ihre Band haben. “Wenn wir spielen, sollen alle spüren, dass dies ein sicherer Ort ist, wo dich niemand wegen deiner Gedanken oder deines Verhaltens verurteilen wird. Ich bin mit der Kirche aufgewachsen und wenn wir da oben auf der Bühne stehen und alle mitsingen, fühlt es sich manchmal so an wie in der Kirche. Dem Publikum so nah zu sein, ist für uns alle etwas Besonderes”, sagt Chase Lawrence. Seit dem Durchbruch mit der Single Talk Too Much vor vier Jahren (mehr als 63 Millionen Streams auf Spotify) und Tourneen beispielsweise mit The 1975 und Young The Giant ist es für COIN freilich schwieriger geworden mit der Nähe. „Wir sind über die letzten Jahre so gewachsen, dass es einiger Anstrengung bedarf, die Atmosphäre eines Hauskonzerts zu erhalten”, gesteht Lawrence.
Man könnte jetzt zynisch sein und anmerken, dass dieses Problem sich in Zeiten von Corona wohl erst einmal erledigt hat (COIN hatten zum am 21. Februar veröffentlichten Dreamland eine Konzertreise mit 22 Stationen in den USA geplant, von denen aber nur die ersten beiden Shows in Tampa und Orlando stattfinden konnten; im Mai soll es auch nach Europa gehen, wenn das bis dahin wieder möglich ist). Man kann aber vielleich auch attestieren, dass die Idee dieses geschützten Raums, der durch ihre Musik geschaffen wird und zugleich eine virtuelle Gemeinschaft anbietet (so kann man den Albumtitel Dreamland vielleicht auch verstehen), angesichts von Isolation und Social Distancing noch wichtiger geworden ist.
In jedem Fall zeigt das dritte Album der Band, wie wunderbar COIN nach wie vor diese Sache mit dem Alternative Pop beherrschen. Der Auftakt Into My Arms ist schick, plakativ, heiter, eingängig und tanzbar – also fast alles, was man von einem Popsong will, inklusive des frommen Wunsches: „Get out of my head / and into my arms.“ Youuu packt viel Sehnsucht in ein Eighties-Gewand, Valentine vermag es, ähnlich wie man das beispielsweise bei Phoenix erleben kann, Leichtigkeit ohne Belanglosigkeit zu transportieren, das romantische Lately III überrascht mit Streichern und elektronischem Beat, Never Change wird hingegen äußerst zupackend.
“Es ging bei diesem Album vor allem darum, die Songs nicht kaputtzudenken”, sagt Chase Lawrence. “In der Vergangenheit gab es öfter den Fall, dass wir ein Riff oder ein Sample nicht reingenommen haben, weil es nicht zu einhundert Prozent nach COIN klang. Dieses Mal haben wir es einfach gemacht. Wenn sich etwas gut anfühlte, dann kam es auch in den Song.” Zur Unterstützung haben sie zwei Meister des Faches hinzugezogen: Als Co-Songwriter und Co-Produzenten waren bei Dreamland Mark Foster und Isom Innis (Frontmann respektive Keyboarder von Foster The People) dabei.
Neue Gelassenheit und neues Selbstvertrauen beziehen sich dabei keineswegs nur auf die Band, sondern auf das Leben insgesamt, sagt der Sänger: „Sowohl in meiner Musik als auch meinen Beziehungen habe ich immer wieder festgestellt, dass es mich überhaupt nicht weiterbringt, wenn ich versuche, es allen recht zu machen. Am Ende fabrizierst du etwas oder führst ein Leben, hinter dem du gar nicht stehen kannst, weil es nicht zu dir passt. Und dann nehmen dir die anderen das auch nicht ab. Es macht also überhaupt keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht ist nicht immer alles perfekt, aber man muss einfach machen, was sich richtig anfühlt, und sich immer bewusst sein, dass das der einzige Weg ist.”
Die Authentizität, die daraus erwächst, ist ein wichtiger Pluspunkt dieser Platte und das vielleicht wichtigste Element für den Appeal von COIN – gerade, weil sie bei einem Sound, der in einem so hohen Maße eingängig ist, sonst so schwer zu finden ist. So geht es in Simple Romance, das man sich gut von Leoniden vorstellen könnte, „um die Komplexität von Beziehungen und darum, wie viel Mühe sie manchmal kosten. Das ist nicht jedem von uns klar, wenn wir eine Beziehung eingehen”, so Lawrence. Auch dem sehr schönen Album-Schlusspunkt Let It All Out hört man so etwas wie ein Bekenntnis und Sendungsbewusstsein deutlich an, nicht nur wegen des Gospelchors. Gepaart wird all das auf Dreamland immer wieder mit fast schamlos schönen Melodien und Arrangements, die todsicher funktionieren, ohne zur Schablone zu werden. Die Single I Want It All ist ein treffendes Beispiel dafür: Die einzelnen Zutaten sind nicht spektakulär, aber COIN kombinieren sie mit viel Pop-Sensibilität. Der Rhythmus ist angelehnt an Gary Glitters Rock & Roll Part 2, der Text steckt voller Bereitschaft zur Hingabe. “Den Beat hatten wir ja schon und als ich anfing zu singen, kamen die Wörter einfach aus mir heraus – es war ein krasses Erlebnis. Es fühlte sich so leicht an, dass ich es selbst kaum glauben konnte”, erinnert sich Lawrence an die Entstehung des Lieds.
Bei einem Songtitel wie Cemetery hätte man bei anderen Acts vielleicht Goth-Elemente oder Splatter-Effekte erwartet, bei COIN gibt es einen von Stimmeffekten geprägten Pop-Spaß – zumindest, wenn man den dann doch recht düsteren Text ignoriert. “Never made time for the family / but he is the richest man in the cemetery”, lautet eine der Zeilen, mit denen daran erinnert werden soll, was wirklich wichtig ist im Leben und wie sinnlos Ziele, Ehrgeiz und Egozentrik als einziges Vermächtnis sind.
Das beinahe einzige Manko von Dreamland: Mit 16 Songs (vier mehr als beim 2017er Vorgänger How Will You Know If You Never Try) ist die Platte zu lang für den dann doch nicht allzu abwechslungsreichen Sound von COIN. Besonders deutlich wird das durch das getragene Babe Ruth: Der Song soll offensichtlich ein neues Element in die Album-Dramaturgie bringen, wird aber schlicht langweilig. In ihren besten Momenten können Lawrence, Winnen und Memmel diesen Vorwurf aber mühelos pulverisieren, etwa in Nobody’s Baby, das ihre Wirkung sehr gut auf den Punkt bringt: Das ist nichts, was man nicht schon einmal gehört hätte – aber von dieser Sorte Lieder kann es nie zu viele geben.