Vince Freeman Powers

Corona-Music 45 mit J Mascis, The Staves, Yeahrs, Vince Freeman und Beatenberg

Foodtruck statt Castingshow: Vince Freeman hat eine der erstaunlichsten Musikkarrieren der vergangenen Jahre hinter sich. Und gerade, als er dachte, er müsse (mitten in der Pandemie) seinen Traum von einer Plattenkarriere beenden, kam ihm das Glück zur Hilfe, sodass er jetzt für März 2024 tatsächlich sein Debütalbum Scars, Ghosts & Glory ankündigen kann. Zum Verständnis des Wörtchens „Scars“ im Titel muss man ein wenig ausholen. 2012 war der damals 34-Jährige einer der Kandidaten in der ersten Staffel von The Voice UK. Schon vorher war er höchst umtriebig gewesen, spielte rund 300 Auftritte pro Jahr und gründete im Club „Ginglik“ in London eine Veranstaltungsreihe namens „Shush“, in der er unter anderem gemeinsam mit Ed Sheeran, Paolo Nutini und Newton Faulkner auf der Bühne stand – teilweise, bevor die ihre riesigen Erfolge feiern sollten. All diese Aktivitäten führten aber nicht zum großen Durchbruch, dann kam noch eine rätselhafte Erkrankung dazu, die sechs Jahre lang chronische Schmerzen und etliche Operationen mit sich brachte. Während der Corona-Monate schien die Möglichkeit, irgendwann noch einmal als Musiker Geld verdienen zu können, noch unrealistischer zu werden. Vince Freeman suchte sich ein neues Standbein und eröffnete einen mobilen Kaffeestand, den er „Coffee Rocks“ nannte. Als er mit diesem Stand auf einem Festival präsent war und mit einem Anwalt aus der Unterhaltungsbranche ins Gespräch kam, der bei ihm einen Kaffee gekauft hatte, fügte sich aber plötzlich alles: Mit den Tipps und der Unterstützung des Anwalts gründete Freeman sein eigenes Label, sammelte genug Geld für Studiosessions ein und nahm zwölf Songs auf, die sich jetzt auf seiner ersten Platte finden. „Es war sicher nicht der märchenhafte Weg, den ich mir vorgestellt habe. Es war harte Arbeit. Aber manchmal braucht es harte Arbeit, um Dinge zu verwirklichen“, sagt er. Die erste Single Powers (***) passt wunderbar zur Geschichte dieses Mannes, der sich nicht unterkriegen ließ und beharrlich an seinen Traum glaubte. Es geht um die Resilienz und Kraft, die man braucht, um Widerstände zu überwinden, und um den Stolz und die Erfüllung, die man daraus beziehen kann, wenn dies gelungen ist. Die Strophe ist reduziert und zeigt viel Soul-Prägung, der Refrain droht kurz plump zu werden, wird dann aber von der schieren Kraft der eigenen Überzeugung gerettet. „Ich glaube, wenn man oft genug gesagt bekommt: ‚Nein‘ oder ‚Du bist nicht geeignet‘, ist es schwer, das nicht zu glauben. Das war definitiv bei mir der Fall, und ich wusste es nicht einmal“, sagt Vince Freeman im Rückblick. „Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass ich meine Musik der Weltöffentlichkeit präsentieren würde, hätte ich gelacht. Ich hatte nicht aufgegeben, ich war nur realistisch. Ich war fast bankrott, betrieb ein kleines Pferdekaffeegeschäft, um zu versuchen, die Hypothek während der Pandemie zu bezahlen, und machte nicht viel in Sachen Musik. Das alles änderte sich, als ich einen neuen Plattenvertrag bekam. Allein diese kleine Sache, dieses ‚Ja‘, dieses ‚Du bist gut genug‘ veränderte mich, und damit begann diese Reise. Ich bin am nächsten Morgen aufgewacht und habe Powers geschrieben. (…) Es handelt von meiner Erkenntnis, dass ich auf der Suche nach etwas war, das ich schon immer hatte. Die Macht ist in mir.“

Eine Kombination aus schweren gesundheitlichen Problemen und den Folgen der Covid-Umstände mussten zuletzt auch The Staves ertragen. Camilla Staveley-Taylor, eine der drei Schwestern in dieser Band aus Watford, musste sich nach Veröffentlichung von Good Woman im Februar 2021 unter anderem einer Reihe von Operationen aufgrund von Endometriose unterziehen, dazu kamen psychische Probleme. Die Mutter des Trios starb, Emily gab schließlich nach der Geburt ihres eigenen Kindes ihren Abschied aus der Band bekannt, sodass Jessica zunächst alleine da stand, als Ende 2022 eigentlich die Arbeit am vierten Album beginnen sollte. Trotz all dieser Widrigkeiten wird am 22. März All Now in den Läden stehen, produziert von John Congleton (Sharon Van Etten, Angel Olsen). Erste Kostprobe ist der Titelsong (****), den The Staves so beschreiben: „Es ist ein Bewusstseinsstrom über Frustration und das Gefühl, von der Moderne überfordert zu sein. Es ist eine Art Ablehnung der performativen Art und Weise, wie wir uns heute ausdrücken müssen, damit etwas als gültig angesehen wird.“ Wer jetzt die konservative Vertonung von Kulturpessimusmus erwartet, liegt denkbar falsch. All Now lebt von clever eingesetzter Elektronik, tollem Harmoniegesang (auf einigen Liedern des Albums singt auch Emily noch mit) und einem ungewöhnlichen Spannungsbogen. Sehr originell ist auch der Videoclip, die Idee dazu schildern die Schwestern so: „Wir lieben alte Aufnahmen von Singer-Songwritern, die in Shows wie The Old Grey Whistle Test auftraten, und die Art, wie das Publikum an jedem Wort eines Sängers hing. Wir wollten mit der Idee spielen, dass All Now eine Ideologie und eine Botschaft ist. Etwas, das von Künstlern und Kreativen stammt, dann aber von Firmenfieslingen gekapert und kommerzialisiert wird, denen es bloß um Macht geht.“

Dass Beatenberg nach ihrem zweiten Album 12 Views Of Beatenberg (2018) eine sehr lange Pause einlegten, lag nicht nur an der Pandemie. Das südafrikanische Trio hatte sich offensichtlich auch größeren internationalen Erfolg erhofft, der sich dann nicht einstellte. Es war also Zeit für eine Neubesinnung, und die nahmen Schlagzeuger Robin Brink (er zog nach London) und Bassist Ross Dorkin (er zog nach Berlin) auch gleich zum Anlass für eine Luftveränderung. Als sie dann nach rund vier Jahren erstmals wieder gemeinsam mit Sänger und Gitarrist Matthew Field musizierten, war deshalb zunächst tatsächlich so etwas wie eine Aufwärmphase notwendig, nicht nur an den Instrumenten, sondern auch zwischenmenschlich. „Wir hatten schon so lange nichts mehr außerhalb der Band zusammen gemacht. Es war fast so, als müssten wir erst wieder Freunde werden, um wieder gemeinsam Musik machen zu können“, schildert der Frontmann die Situation, aus der dann die Ende 2022 veröffentlichte EP On The Way To Beatenberg hervorging. Den wiedergefundenen Zusammenhalt feiern sie auch auf dem für April angekündigten neuen Album The Great Fire Of Beatenberg. Mit When I Fall Asleep (***) gibt es jetzt bereits den vierten Vorab-Track. „Das ist eigentlich der älteste Song auf dem Album“, sagt Field. „Ich glaube – einer von zwei Songs, die ich mit der Zeile ‚When I fall asleep‘ geschrieben habe. Schlafen ist etwas, das ich oft erwähne, nicht wahr? Ich hatte gerade das Buch Passage To India gelesen. Ich stelle mir die Figur auf dem Album in einem Hotelzimmer vor, wie sie liest und dann mitten im Satz wegdriftet“, erzählt der Sänger. Dieser verträumte Charakter kommt in der Akustikversion noch besser zur Geltung, zugleich zeigt sie, dass hinter dem oft sehr heiteren und vermeintlich geradlinigen Indie-Pop von Beatenberg manchmal auch sehr zarte, nicht ganz von dieser Welt zu stammen scheinende Kompositionen stecken können.

Die akustische Gitarre ist bekanntlich auch das Mittel der Wahl, wenn J Mascis sich (neben seinen vielen anderen Aktivitäten etwa bei Dinosaur Jr., The Fog, Witch, Sleep Apple oder Heavy Blanket) mal wieder an ein Soloalbum macht. Das wird auch auf What Do We Do Now wieder so sein, das für 2. Februar angekündigt ist. Viel mehr als zuletzt sind dabei aber auch Soli auf der E-Gitarre und ein kraftvolles Schlagzeug wichtige Elemente, dazu kommen Gastauftritte von Ken Mauri (The B-52’s) am Klavier und Matthew „Doc“ Dunn (mit dem J Mascis schon früher zusammengearbeitet hat) an der Steel Guitar. Seinen Ausgangspunkt nahm sein fünftes Soloalbum in den letzten Tage der Pandemie, als J Mascis in seinem Studio Bisquiteen in Western Massachusetts experimentierte und feststellte, dass die dabei entstehenden Ideen eher wieder einen Charakter haben, der nicht zu seinem Hauptberuf bei Dinosaur Jr. passt. „Wenn ich für die Band schreibe, versuche ich immer, an Dinge zu denken, zu denen Lou und Murph passen würden. Für mich selbst denke ich mehr darüber nach, was ich mit einer Akustikgitarre machen kann, selbst bei den Leads“, berichtet er. Dass die dritte Single Right Behind You (***1/2) nun trotzdem vergleichsweise schmissig und voluminös klingt, ist nach seinen Angaben „einfach so passiert“. Tatsächlich kommt der Song wohl der Idee einer Unplugged-Performance mit seinen beiden Dinosaur-Kollegen ziemlich nahe, was den Künstler selbst womöglich gar selbst etwas überrascht hat: „Normalerweise versuche ich, die Solo-Sachen einfacher zu machen, damit ich sie selbst spielen kann, aber ich wollte unbedingt das Schlagzeug hinzufügen. Als ich damit angefangen habe, hat sich alles andere von selbst ergeben.“

Schon 2017 haben sich Yeahrs in Straßbourg gegründet, aber wegen Corona kamen Morgan Oliveira (Gitarre/Gesang), Oyémi Héssou (Gitarre), Thomas Neuwirth (Bass) und Tom Claudon (Schlagzeug) erst unlängst in den Genuss, tatsächlich gemeinsam in einem Raum an einer Platte zu arbeiten. Bei der Anfang 2023 veröffentlichten EP Transfer Transformers war das für das mittlerweile in Berlin ansässige Quartett noch anders, erzählt Morgan Oliveira: „Es ist das erste Mal, dass jeder bei der ganzen Sache anwesend war. Das hat sich viel partizipativer angefühlt und hat mehr Spaß gemacht als unsere vorherige EP, die wir größtenteils bei uns zu Hause aufgenommen haben.“ Aus dem neuen Prozess ging das Debütalbum Spiritual Sickness hervor, das am 1. März veröffentlicht wird und in den Echolux und Lala Studios in Leipzig aufgenommen wurde. Die Band, die unter anderem mit Explosions In The Sky und Swervedriver auf Tour war, verweist trotz der sehr unterschiedlichen Entstehungsgeschichten aber auch auf etliche Parallelen und Kontinuitäten. „Während der Entstehung der EP tauchten wir in viele Inhalte ein, die mit der Erforschung des Weltraums, der Erde, dem Universum und der Geschichte des Lebens zu tun hatten. Diese kosmische Reise führte unweigerlich zu vielen Fragen, die immer wieder auftauchen: Warum etwas und nicht nichts? Es ist schon komisch, wie die Erforschung der Weiten des Universums schließlich zu einem tiefen Eintauchen in die Selbstbeobachtung, das menschliche Bewusstsein und die Spiritualität wurde. Darin spiegelt sich die Erkenntnis wider, dass diese unbeantwortbaren Fragen tatsächlich dazu führen können, dass man seinen Verstand in Frage stellt und seine Wahrnehmung der Realität beeinträchtigt. Spiritual Sickness versucht, diese einzigartige Stimmung einzufangen, jedoch mit einer übergreifenden und kritischen Perspektive auf die Menschheit und die Gesellschaft. Das Album geht über persönliche Emotionen hinaus“, sagt Morgan Oliveira. Wie das gemeint ist, illustriert die zweite Single Raindrops (***1/2), deren Text eine Geschichte erzählt, die bei Stress beginnt und bei Heilung endet, und deren Musik mal reduziert, mal majestätisch wirkt, ebenso verträumt wie heavy sein kann. „Ich würde unseren Sound als eine Mischung aus all unseren verschiedenen Einflüssen beschreiben. Wenn ich unsere Musik einem Genre zuordnen müsste, würde ich so etwas wie Post-Shoegaze sagen, aber wir haben viele andere Einflüsse, die man in unserer Musik hören kann: Grunge, Post-Punk, Dream Pop, Indie und Hardcore zum Beispiel“, sagt Oliveira. „Es ist eine Art Mischung aus all dem, etwas wolkig und verträumt, aber gleichzeitig auch schwer und rau.“ Wer sich live davon einen Eindruck machen will: Yeahrs spielen am 23. Februar in Leipzig im Ilses Erika.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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