Corona-Musik 17 mit Jim Ward, Tim Neuhaus, Klinger, Nathan Ball und Lakes

Klinger Persona : Perseverance
Klinger begleitet Corona-Betroffene mit Kamera und Klavier. Foto: Add-On-Music / Ingo Stahl

Für niemanden ist Corona normal. Wir allen werden irgendwann auf unser Leben zurückblicken und die Phase der Pandemie als ganz prägendes (und hoffentlich einmaliges und gesund überstandenes) Ereignis erinnern, wir alle müssen unseren jeweils individuellen Zugang finden, um mit SARS-Covid-19 umzugehen und seinen Auswirkungen zu trotzen. Diese Gedanke steht im Mittelpunkt der Reihe Persona : Perseverance, die mit musikalischen Porträts Menschen in der Corona-Krise vorstellt. Hinter dem Projekt steckt der Musiker und Produzent Klinger, der zuvor beispielsweise schon mit Vivie Ann oder Alin Coen gearbeitet hat. Der Hamburger stellt Menschen vor, die in den vergangenen knapp anderthalb Jahren in besonderer Weise von Covid-19 betroffen waren, etwa einen Theaterschauspieler, der nicht mehr auf die Bühne darf, oder eine Seniorin, die im Altenheim eine Corona-Erkrankung überstanden hat. Insgesamt gibt es sechs Porträts (alle verfügbar ab 1. Juni auf www.projectpersona.de), jeweils mit einem Video und einer eigenen Klavierkomposition. „Als Kind saß ich oft am Klavier und habe einfach vor mich hin gespielt, frei improvisiert. Irgendwann habe ich festgestellt, dass sich mein Klavierspiel gravierend ändert, wenn jemand den Raum betritt. Als ob dieser Mensch sich irgendwie in meiner Musik widerspiegelt. So ist der Gedanke entstanden, Personen mit Musik darzustellen“, erläutert Klinger. Die Pandemie erschien ihm für die Umsetzung dieser Idee wie eine Steilvorlage. „Es passiert nicht oft, dass auf der ganzen Welt gleichzeitig so viele Dinge aus ihrer gewohnten Ordnung gerissen werden. Jetzt, wo das alles hoffentlich dem Ende entgegen geht, kann man sich ja mal fragen: Was zur Hölle ist da eigentlich passiert? Und was hat das Alles mit uns gemacht?“ In der ersten Folge berichtet der 76-jährige Horst, wie es anfühlt, dass er erstmals seit fast 50 Jahren seine Kneipe „Crazy Horst“ auf Sankt Pauli nicht öffnen darf. Man sieht es seinem ebenso ungeduldigen wie skeptischen Blick im Video an, und man hört es auch am teils versonnenen, teils aufbrausenden Klavier. Wer tiefer in das Konzept eintauchen will, kann nicht nur die fünf weiteren Porträts sichten, sondern auch die Reihen „Natura“ und „Machina“ im Instagram-Profil von Klinger finden, die ebenfalls Kurz-Klavierkompositionen enthalten. Nach seiner Debüt-EP Creatures aus dem Frühjahr 2020 soll im Herbst 2021 zudem das erste Album folgen.

Zum Träumen war während der Corona-Zwangspause ja immerhin genug Zeit, und Tim Neuhaus hat sich prompt ein paar lang gehegte Wünsche erfüllt, Mit der Reihe Echoes huldigt er mit Coverversionen einigen seiner musikalischen Helden, jeweils im EP-Format. Den Auftakt macht In Your Honor (***1/2), im Original von den Foo Fighters. „Nirvana, die Foo Fighters und Dave Grohl triggern in mir das Lebensgefühl des Grunge bis heute und erinnern mich daran, warum ich Anfang der 90er mit der Musik angefangen habe. In Your Honor ist ein Song, der sich auf der Gitarre anfühlt wie Schlagzeug spielen. Er handelt von der vollkommenen Hingabe an etwas, an das du glaubst. Es ist wie sich ein Stück Urvertrauen zurückholen“, begründet er die Auswahl. Gerade der Beginn seiner spannenden und sehr lebendigen Version unterstreicht das, bevor dann tatsächlich eine Bass Drum und schließlich ein ausgewachsenes Schlagzeugsolo dazukommen. „Nach der anfänglichen Schockstarre während des Lockdowns machte ich mich daran, mich ein paar liegen gebliebenen Vorhaben zu widmen, die sonst im Musik-Alltag wenig Platz gefunden hätten. Eins davon: ein Solokonzert nur mit Cover-Songs! Das Knust in Hamburg hat mir das im Dezember 2020 mit einem Streaming-Konzert möglich gemacht. Ich habe die Songs gespielt, die mich inspiriert haben, selbst Songs zu schreiben – und davon gibt es viele“, sagt Tim Neuhaus. „Immer wenn ich meine eigene Musik schreibe, tut es gut viel zu covern. Um von anderen zu lernen und seine eigenen Songs im Großen und Ganzen besser einschätzen zu können. Nach diesem Abend entstand die Idee zu diesem langfristigen Cover-Projekt. Echoes Vol. 1 wird zudem Songs von Bruce Springsteen, Radiohead, Elliot Smith oder den Smashing Pumpkins enthalten, insgesamt acht Stücke, die am 10. Juni digital von Grand Hotel van Cleef veröffentlicht werden. Auf Vol. 2 sollen dann Stücke von Frauen gecovert werden, hat Tim Neuhaus schon verraten. Hoffentlich trägt er dann auch wieder Schuhe.

Während des ersten Lockdowns ist Can’t Work You Out (***1/2) entstanden, die neue Single von Nathan Ball. „Es lag ein zunehmendes Gefühl von Unsicherheit, Verwirrung und Angst in der Luft. Der Text erforscht diese innere Konversation und wachsende Frustration, die schließlich außer Kontrolle gerät“, sagt der Engländer, der in dieser Zeit aus London an die Küste Cornwalls gezogen ist. „Ich wollte, dass die Musik dies widerspiegelt. Wenn der Text intensiver wird, folgt die Musik und wird kakophonisch. Ich habe versucht, in Worte zu fassen, was ich und andere um mich herum gefühlt haben. Der Song war eine echte, emotionale Befreiung für mich.“ Diesen Effekt zeichnet eine Entwicklung von einem sehr introvertierten Beginn über etwas mehr Schwung bin hin zu einem recht rohen und leidenschaftlichen Part nach, auch wegen der Stimme kann man dabei an frühe Coldplay denken. Das Debütalbum Under The Mackerel Sky wird mit einiger Sicherheit am 20. August erscheinen. Etwas wackliger sind wohl die bereits mehrfach verschobenen Liveshows. Derzeit sind für Mitte Dezember drei Konzerte in Deutschland angekündigt, nämlich in Köln, Hamburg und Berlin.

Auch Jim Ward nutzte die Pandemie-Einschränkungen für einen kreativen Höhenflug. „Ich glaube, der Moment im März 2020, als die Welt anhielt, war ein großes Geschenk für mich. Ich habe es dank dieser neuen Situation geschafft, mich endlich von der Vergangenheit zu lösen“, sagt der Musiker, der als Solist, Frontmann von Sparta und Gitarrist von At The Drive-In bekannt ist. „Emotional und mental hatte ich vieles von mir weggeschoben, und nun hatte ich endlich die Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen.“ Das Ergebnis ist sein neues Soloalbum Daggers (erscheint am 11. Juni) inklusive des jetzt veröffentlichten Foreign Currency (***1/2) als dritte Vorab-Single. „Der Track behandelt die Erkenntnis, dass man die, die man am meisten liebt, am meisten schadet, wenn man nicht ehrlich zu sich selbst ist. Es brauchte den Lockdown, meine Gitarre und viel Zeit allein mit mir selbst, um das zu raffen“, sagt Ward. Entsprechend zentral ist die Gitarre nun im Song platziert, ebenso wie der Aufruf, sich nichts vorzumache, bevor alles in einem erfreulich krachigen Finale irgendwo zwischen Pearl Jam und frühen Radiohead mündet. So mitreißend kann also Selbstfindung klingen.

Lakes stehen exemplarisch für den Frust, den viele junge Bands in den vergangenen Monaten erlebt haben: Die Karriere des Sextetts aus Watford hatte gerade Schwung aufgenommen, nach dem Debüt The Constance LP (2019) folgten Tourneen mit Bands wie Nervus und Orchards, begleitet von einigen Self-Releases. Dann stoppte die Pandemie die Entwicklung der Engländer, die als Einflüsse sowohl Mainstream-Größen wie Fleetwood Mac, Phil Collins und Peter Gabriel nennen als auch Emo-Kollegen wie American Football, Broken Social Scene oder Bon Iver. Die neue Single thematisiert das programmatisch: Sie heißt Start Again (****), und so wird auch ihr am 30. Juli bei Big Scary Monsters erscheinendes Album heißen. Der Gedanke an Neubeginn und Wiederauferstehung ist dabei sowohl indivuell als auch auf die gesellschaftliche Situation bezogen. „Während der Lockdowns im vergangenen Jahr hat meine Psyche wirklich enorm gelitten. Als Folge habe ich mich ziemlich stark selbst medikamentös behandelt. Im Moment gibt es ein kollektives Leiden, was es schwieriger macht, sich mit der Geschichte eines einzelnen Betroffenen wie mir zu identifizieren, aber diese Musik war mein Ventil dafür“, sagt Sänger Roberto Cappellina zur Verbindung dieser beiden Sphären. Das klingt durchaus erhebend, erstaunlich leicht und wird – Corona-konform – mit einem sehr amüsanten Quasi-Videokonferenz-Casting-Clip umgesetzt. Auch jenseits der Hoffnungen für das neue Album sehen Lakes aber eindeutig optimistisch in die Zukunft. „Diese Songs dienen für alle von uns in gewisser Weise als ein Vehikel zur Heilung. Dementsprechend gibt es viele verschiedene und rohe Themen auf der Platte. Auch in Zeiten der kompletten Isolation gibt es eine einzige Person, der man nicht entkommen kann: sich selbst“, sagt Cappellina. „Wir sprechen über alles – von Mental Health bis zu Sucht; über Trennungen von toxischen Beziehungen bis hin zu postpartalen Psychosen. Wir alle waren schon an den dunkelsten Orten, aber letztendlich geht es auf Start Again darum, auf der anderen Seite wieder rauszukommen. Es handelt davon, sich dieser Dunkelheit zu stellen, sie zu akzeptieren und die Vergangenheit loszulassen. Darum, Frieden mit sich zu schließen und nach vorne zu schauen. Zu sagen, dass eigentlich alles in Ordnung ist. Und neu anzufangen.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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