Ein Wendepunkt war die Corona-Pandemie für Pa Sheehy nicht nur, weil der Musikbetrieb weitgehend lahm gelegt war, zu dem er ais Sänger von Walking On Cars seit 2009 gehörte. Vielmehr nutzte er die Zeit, um sich komplett neu zu orientieren, was schließlich im Ende der irischen Band mündete, die es auf zwei Alben gebracht hatte. „Als der Lockdown eintrat, überkam mich eine Ruhe, wie ich sie noch nie zuvor gespürt hatte. Ich wurde langsamer und hörte zum ersten Mal seit zehn Jahren auf, an den nächsten Song und den nächsten Auftritt zu denken. Es war eine Chance, alles neu zu bewerten. War ich glücklich mit dem, wo ich war? Ich versuchte mir einzureden, dass ich es war und dass ich dankbar sein sollte, aber nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich nicht glücklich war und es an der Zeit war, eine große Entscheidung zu treffen“, sagt er rückblickend. „Es gab keinen Streit oder ein anderes großes Drama; es war einfach zu Ende. Nach all den Jahren in einer Band wollte ich einfach mein eigenes Ding machen, was sehr befreiend war.“ Dieses eigene Ding findet nun beispielsweise in der neuen Single I Saw You At A Funeral (***) seinen Ausdruck. Der Song verarbeitet offensichtlich den Tod seines Vaters. “Ich wollte diesem Teil meines Lebens nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, weil ich mein Bestes getan habe, mich auf die guten Dinge in meinem Leben zu konzentrieren. Aber jedes Mal, wenn ich mich hinsetzte, um einen Song zu schreiben, war es immer das erste, was aus mir heraussprang. Also wusste ich, dass ich es aus meinem System herausbekommen musste“, sagt Pa Sheehy. Bei schmerzhaften Zeilen wie „You were filling me with hope / that’s the perfect way to let me down“, einem erst reduzierten, dann aufwühlenden Arrangement, der Stimme, die durch Mark und Bein geht (und einem Video, dass nach einer Haushaltsauflösung aussieht) ist es kein Wunder, dass seine ebenfalls trauernden Geschwister das Lied nur ein einziges Mal hören wollten und dann nie wieder: „Ich fasse das als Kompliment auf.“
Eine ganz ähnliche Erfahrung hat Marius Bornmann gemacht, auch wenn es in seinem Fall nicht zum Ende der Band geführt hat. Allerdings hat der Schlagzeuger von Heisskalt das Soloprojekt Marius ins Leben gerufen. 2020 waren eigentlich Festivals mit der Band geplant, als die dann abgesagt werden mussten, hat sich bei ihm „ein Schalter umgelegt, den ich vorher nie umgelegt bekommen habe“, sagt er. Direkt am nächsten Tag ging er alleine in den Proberaum und arbeitete an ein paar Ideen und Skizzen, was sich wie eine Befreiung anfühlte. „10 Jahre mit Heisskalt zu spielen, war eine der tollsten Sachen überhaupt. Wir haben jedes Jahr zig Konzerte gespielt, durften auf den größten Festivals des Landes gastieren und haben Dinge erlebt, die ich kaum so schnell verarbeitet bekommen habe. Dafür bin ich dankbar und denke immer froh dran zurück. Jahrelang habe ich aber auch nichts anderes gemacht und war auch nichts anderes als der Schlagzeuger von Heisskalt. Ich habe keine anderen Jobs gehabt, mein Freundeskreis bestand aus der Band und der Crew und es gab auch keine anderen Themen mehr“, erzählt er. „Ich habe mich da lange reinfallen lassen, aber irgendwann gemerkt, dass ich gar nicht mehr wusste, wer ich selbst war. Mich gab’s nur im Kollektiv. (…) Die Band war immer Identität und Sicherheitsnetz. Bis sie auf einmal weg war. Wer war ich denn jetzt? Das letzte Jahr war auch eine große Suche danach. Und ich war froh, dass ich es schnell geschafft habe, mich endlich allein musikalisch auszutoben. Ohne Grenzen, ohne Erwartungshaltungen. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb meine Solo-Sachen musikalisch in das komplette Gegenteil von Heisskalt umgeschlagen sind. Nach vielen Jahren schwarzweiß, traurig und schwer wollte ich bunt, locker und aus dem Bauch heraus.“ Den Beweis tritt die Single 30 Tage auf Tour (**) an. Der Text blickt sowohl auf die Lust, endlich wieder eine Konzertreise starten zu können, als auch auf die Sehnsucht, die man während all der Routine innerhalb einer Band nach dem „richtigen“ Leben mit den Liebsten zuhause entwickeln kann. Musikalisch gibt es keinen Post-Hardcore, sondern heiter-eingängigen Quasi-Rap mit ein bisschen Autotune. Der Labelkollege Cro ist da kein ganz aus der Luft gegriffener Vergleich, das Problem des Songs ist indes nicht dieser Stilbruch, sondern die etwas holprigen Reime und das gelegentlich arg mit dem Flow im Konflikt stehende Metrum. „Im Video haben wir versucht, den Touralltags-Stress-Trott darzustellen, wie ich ihn oft mit Heisskalt erlebt habe. Ich werde von den Leuten um mich rum von Station zu Station getrieben, obwohl ich eigentlich die ganze Zeit doch eigentlich nur Musik machen will“, sagt Marius. „Es versteht sich von selbst, dass auf Tour zu sein, gleichzeitig auch wunderschön ist. Aber der schönste Teil bleibt hier leider aus – dank Corona ist die Halle leer.“
Schon der Titel klingt in Zeiten von Einschränkungen, Verboten und Vorsichtsmaßnahmen wie eine Verheißung: Free (***1/2) heißt die neue Single von Parcels, zugleich die erste neue Musik der Australier seit dem Debütalbum vor drei Jahren. Jules Crommelin hat den Song während des Lockdowns geschrieben, als die fünf Bandmitglieder gerade in aller Herren Länder verstreut waren. „Während der Text sich mit den Herausforderungen seiner Fernbeziehung auseinanderzusetzen schien, fühlte er sich gleichzeitig wie ein Brief an den Rest der Band an“, haben seine Kollegen Louie Swain (Gesang, Keys), Patrick Hetherington (Gesang, Keys, Gitarre), Noah Hill (Gesang, Bass) und Anatole „Toto“ Serret (Gesang, Schlagzeug) erkannt. Das kann man gut nachvollziehen angesichts von Zeilen wie „We’ve lifted up and had to stop / we’re beaten up, we’re beaten up.“ Die Musik findet dazu eine Entsprechung mit gebremstem Funk, der in einem erhebenden Finale (mit einem wieder einmal großartigen Orchester-Arrangements von Owen Pallett) mündet. Sehr schön.
In Berlin, wo Parcels zwischenzeitig auch ansässig waren, haben Lea Porcelain zuletzt mit einem Streaming-Konzert die Veröffentlichung ihres zweiten Albums Choirs To Heaven gefeiert. Das Duo hat aber noch auf andere Weise einen besonderen Umgang mit den Corona-Einschränkungen gefunden: Lea Porcelain gehören zur wachsenden Zahl von Musikern und anderen Kreativen, die einen Account bei Patreon angelegt haben, einer 2013 gegründeten Plattform, über die Fans („Patrons“) einen regelmäßigen Beitrag direkt an ihren Lieblingskünstler im Austausch für exklusive Inhalte und Erlebnisse geben können, damit bei denen etwas mehr hängen bleibt als beispielsweise bei YouTube oder Spotify. So gab es für die Patrons zum Album-Release beispielsweise exklusives Vorab-Material. „Wir sind Künstler – wollen Musik erschaffen und euch einen individuellen und einzigartigen Einblick in unser Leben, in unsere Musik und in unsere Poesie geben. Ungeschnitten, originell und ehrlich“, sagen die Bandmitglieder Julien und Markus. Wer sich zunächst mit der Musik begnügen will, kann sich an der Single Just A Dream (***) orientieren. Alle, die Romantik und Melancholie mögen, dürften dem Dasein als Patron dann ein gutes Stück näher kommen.
Zum Schluss ein bisschen Hoffnung: Love Will Work It Out (***1/2) heißt die neue Single von Durand Jones & The Indications. Das ist zugleich ein Vorbote für das Album Private Space (erscheint am 30. Juli) als auch die Erkenntnis, die Aaron Frazer (Schlagzeug), Durand Jones (Gesang), Blake Rhein (Gitarre), Steve Okonski (Tasten) und Mike Montgomery (Bass) aus der Corona-Zeit gezogen haben. „Ich möchte, dass die Hörer wissen, dass durch wirklich harte Zeiten etwas Schönes geboren werden kann“, erklärt Jones zu diesem Song, der von den Erfahrungen der Covid-19-Auswirkungen ebenso geprägt ist wie von Social-Justice-Bewegungen in den USA. „Während der Monate nach der Pandemie und dem darauf folgenden rassistischen und politischen Chaos fiel es uns schwer, zu schreiben. Es war die größte kreative Durststrecke, die wir seit zehn Jahren erlebt hatten“, teilt die Band aus Indiana mit, deren Mitglieder sich während des Lockdowns ein Jahr lang nicht gesehen haben. „Die ständige Flut von Schreckensnachrichten fühlte sich überwältigend an, und Songs schienen einfach unzureichend als Antwort auf Polizisten, die am helllichten Tag Menschen ermorden. Lieder fühlten sich unzureichend an angesichts eines Virus, das Gemeinschaften dezimierte und uns von unseren Lieben trennte. Wir marschierten, protestierten, weinten, wischten unsere Einkäufe ab, hörten auf, unsere Einkäufe abzuwischen, zogen den Stecker, atmeten durch, schlossen uns neu an, engagierten uns neu. Und als die musikalischen Ideen endlich wieder flossen, war der erste Song, den wir zusammen schrieben, Love Will Work It Out.“ Die Botschaft ist genauso ermutigend und einleuchtend wie das Lied, das mit sanftem R&B, Vibraphon-Solo und und von Streichern umgarnten Harmoniegesang tatsächlich wohl selbst dem fiesesten Hater und cholerischsten Wutbürger ein Lächeln ins Gesicht und ein Wippen in den Fuß zaubern könnte. „Ich habe das Gefühl, dass wir im Leben der Menschen ankommen in einem Moment, in dem sie eine wirklich harte Zeit hinter sich haben“, sagt Aaron Frazer. „Wir sind noch nicht über den Berg, aber hoffentlich erlaubt dies den Menschen, wieder zusammenzukommen, sich auszutauschen und Katharsis zu erleben.“