Als We Were Promised Jetpacks vor drei Jahren ihr bisher letztes Album The More I Sleep The Less I Dream veröffentlicht haben, ahnten sie wohl kaum, wie sich die weitere Geschichte ihrer Band entwickeln würde. Zuerst trennten sie sich von Gründungsmitglied Michael Palmer. Dann wollten Adam Thompson, Sean Smith und Darren Lackie sich als Trio an die Arbeit für das nächste Werk machen – und wurden von einer Pandemie ausgebremst. Die Schotten haben das aber keineswegs als Schicksalsschlag begriffen, sondern als Fat Chance (***1/2), wie die zweite Vorab-Single des anstehenden Longplayers heißt. „Wir haben Ende März 2020 so richtig mit dem Schreibprozess für dieses Album begonnen, als klar wurde, dass alles zunächst zum Stillstand kommt und das Touren in nächster Zeit nicht möglich sein werde. Von März bis Juni schickten wir uns aus der Ferne gegenseitig Ideen zu und arbeiteten auf diese Weise zusammen an den Songs. Ich war so froh, dass ich ein Projekt hatte, auf das ich mich während des Lockdowns konzentrieren konnte. Im Juli konnten wir uns endlich wieder im Proberaum treffen und zusammen weiter schreiben, wie wir es üblicherweise tun. Fat Chance ist dann ziemlich schnell entstanden“, erzählt Leadsänger Adam Thompson. „Auf diese Weise zusammen Songs zu schreiben bedeutete, dass wir fast täglich in Kontakt bleiben mussten, um über über die Musik zu sprechen und was wir individuell und kollektiv mit ihr erreichen wollten. Auch wenn wir nicht im selben Raum sein konnten, erlaubte uns diese Arbeitsweise weiterhin gemeinsam etwas zu erschaffen und vielleicht sogar direkter und effizienter als sonst zu kommunizieren“, sagt der Sänger. Entsprechend auf den Punkt ist der Song, ohne dabei in Stereophonics-Plumpheit zu verfallen, auch vom Gloriosen, das man beispielsweise bei Biffy Clyro erleben kann, halten sich We Were Promised Jetpacks ein Stück weit entfernt. Dafür gibt es eine sehr schöne Umsetzung für die Idee, dass es immer Hoffnung gibt, dass aus den unwahrscheinlichsten Ausgangsbedingungen trotzdem etwas Spektakuläres entstehen kann. „Die Musik als etwas zu haben, auf das wir uns während des Lockdowns konzentrieren konnten, hat uns nur darin bestärkt, wie sehr wir es genießen, als Band zusammen zu sein und wie wichtig es uns ist, das noch so lange wie nur möglich tun zu können.“ Der Albumtitel passt zu diesem Optimismus: Enjoy The View kommt am 10. September heraus.
Auch You Me At Six sind höchst konstruktiv mit der Zwangspause umgegangen. Weil sie mit Suckapunch, das im UK die Spitze der Charts erreichte und dort ihr insgesamt sechstes Top-10-Album war, nicht auf Tour gehen konnten, haben sie mit ihrem langjährigen Produzenten Dan Austin einfach weiter aufgenommen, was nun in einer Deluxe Edition des Albums gemündet ist. Darauf findet sich auch die neue Single Read My Mind (***). Sie „stammt aus einer dieser Studio-Sessions und greift die Vielseitigkeit auf, die wir auf Suckapunch erforschen – es schien perfekt für die erweiterte Ausgabe des Albums zu passen“, sagt Sänger Josh Franceschi. Man kann hier ein paar Einflüsse der frühen Nullerjahre erkennen, etwa im angedeuteten Sprechgesang oder dem Schmerz-Stimmeffekt im Refrain, in jedem Fall ist das – erst recht für ein Nebenprodukt des regulären Oeuvres – weiterhin unverkennbar ambitioniert. Die erweiterte Ausgabe von Suckapunch enthält neben Read My Mind noch weitere neue Songs sowie neue Interpretationen bekannter Stücke wie Glasgow, das You Me At Six mit einem 30-köpfigen Orchester in den Abbey Road Studios aufgenommen haben.
Ihre Landsleute von The Lathums wurden durch Covid-19 noch stärker lahmgelegt, schließlich steht bei ihnen die Veröffentlichung des Debütalbums (bereits fertiggestellt und produziert von The Corals James Skelly) noch aus. Die Vorfreude steigert das Quartett aus Wigan nun mit der Single How Beautiful Life Can Be (****), von Annie Mac bei BBC 1 gerade zur „Hottest Record In The World“ gekürt. Der im Frühjahr 2020 geschriebene Song ist ihr Gegenmittel zum Corona-Blues, mit einem sanften Shuttle, verträumter Buddy-Holly-Gitarre und glorioser Gesangsmelodie, die verstehen lässt, warum als Vergleichspunkt für diese Band unter anderem The Housemartins herangezogen wurden. “Unsere traurigsten und einsamsten Momente können zu unseren glücklichsten und zufriedensten führen, weil wir gespürt haben, wie es ist, dort unten zu sein und nach oben zu schauen“, sagt Sänger Alex Moore. „Ich habe das Gefühl, dass jetzt die Zeit ist, all die großen und kleinen Dinge zu schätzen, die wir am meisten vermisst haben.“ Für das Video haben The Lathums eine Live-Version in den Parr-Street-Studios eingespielt, in denen sie auch das Album aufgenommen haben. Wer selbst in einer weltweiten Krise so klingt, dem steht wohl (nicht nur wegen des Platzes auf der Shortlist vom BBC Sound Poll 2021 und den schon erfolgten Konzerten als Support von Blossoms und Paul Weller) hoffentlich Großes bevor.
HÆCTOR aus Hamburg sind sicher keine Freunde der Rubrik „Corona-Musik“, wie Sänger Martin Wendt andeutet: „Als Band haben wir uns immer ein wenig geräuspert, wenn wir Corona-Songs von anderen Bands oder Künstlern gehört haben. Für uns war klar, dass wir eher die Stimmung einfangen wollen als konkret zu werden.“ Das tun sie nun mit Run Dry (***1/2), der dritten Singleauskopplung aus dem für März 2022 angekündigten Debütalbum Modern Urban Angst. Der Albumtitel zeigt schon, dass Wendt, Bassistin Lena Schöllermann, Gitarrist Christopher Kellner und Schlagzeuger Christoph Rosemeier, die seit 2017 als Band aktiv sind, kein Problem damit haben, Sensibiität und Verwundbarkeit einzugestehen. Entsprechend ist ihr Pandemie-Song ein Blick auf die emotionalen Folgen von Isolation. „Ich hasse Whatsapp-Gruppen, aber in den vergangenen Monaten habe ich mich dabei erwischt, aus Sehnsucht in unsere Familiengruppe zu schauen. Das Foto meiner Eltern, wie sie in meiner Heimat allein wandern gehen, hat mich sehr traurig gemacht und mir die Inspiration für dieses Lied gegeben“, erklärt Martin Wendt. Der Song lässt sich nicht in diese Trauer fallen, sondern lehnt sich rund um die Zeile „Don’t leave me so low and high“ dagegen auf, mit einem guten Gespür für Dramatik und einer durchaus erkennbaren Einladung zur Ausgelassenheit. Sehr willkommen.
Als Betreiber eines Clubs zählt man in der Corona-Pandemie sicher zu den beruflich am härtesten getroffenen Menschen, Kay Shanghai hat in rund 15 Jahren als Besitzer des Essener Clubs „Hotel Shanghai“ aber sicher schon ein paar weitere Tiefpunkte überstanden. Die Pandemie nutzte der in China als Sohn eines deutschen Bauingenieurs und einer Diplomaten-Tochter geborene Lebenskünstler, um ein Hobby zum Beruf zu machen. In seinem Club hat er zu später Stunde gelegentlich selbst einen Freestyle-Rap hingelegt, am 29. Oktober bringt er mit Haram nun ein HipHop-Album heraus. „Manche Freunde fragen mich, warum das nicht schon viel früher kam“, sagt Kay Shanghai – und die Antwort könnte beispielsweise lauten, dass Deutschrap für einen offen schwulen Künstler und einen Track wie die Single Ananas (***1/2), die letztlich von nichts anderem als homosexuellen Blowjobs handelt, lange Zeit nicht bereit war (und es beträchtliche Teile der Szene wohl weiterhin nicht sind). Entstanden ist das Album gemeinsam mit den Produzenten Voddi, Barsky und STV, die er wohl auch im Sinn hat, wenn er sagt: „Ich habe mich nie als explizit politisch verstanden, aber ich glaube, dass meine Musik diesbezüglich eine Gewichtung hat – und wenn ich mit ihr für ein paar Menschen einstehen kann, ist es das wert. Let’s kick ass!“