Was ist denn da passiert? Angel Olsen kannten wir bisher als Folksängerin mit entsprechend natürlichem Auftreten. Für die neue EP Aisles ist sie nun mit knallrotem Mund und blauem Lidschatten zu sehen, auch hinsichtlich der Frisur scheint sie an der Nachfolge von Jennifer Rush arbeiten zu wollen. Das ist keineswegs eine ganz falsche Interpretation, denn was (auch ihr) passiert ist, heißt: Corona. Und die Antwort der US-Songwriterin darauf ist eine EP mit Coverversionen von Klassikern aus den Achtzigern. Besonders gut passt diese Idee natürlich für den Safety Dance (****1/2), im Original ein Hit aus dem Jahr 1982 für das kanadische Trio Men Without Hats. „Ich hatte das Gefühl, dass dieser Song neu interpretiert werden könnte, sodass er von dieser Zeit der Quarantäne und der Angst handelt, mit jemandem zusammen zu sein oder zu viel Spaß zu haben“, erklärt Angel Olsen ihren Ansatz bei dieser Songauswahl. „Ich habe mich gefragt, ob es sicher ist, zu lachen oder zu tanzen oder nur für einen Moment frei von allem zu sein.“ In der Tat klingt die erste Zeile „You can dance if you want to“ hier wie eine lebensgefährliche Mutprobe, vor allem der Bass sorgt für eine morbide, klaustrophobische Grundstimmung, im Refrain wird aber auch eine kleine Chance auf Eskapismus erkennbar. Die EP mit insgesamt fünf Songs ist digital bereits verfügbar und wird am 24. September auch als physischer Tonträger erscheinen, und zwar Eighties-stilecht nur auf Vinyl und Musikkassette.
Die Idee war gut: Im März 2020 wollte Julia Shapiro den Winter in Seattle hinter sich lassen. Sie zog nach Los Angeles, um dort das Leben zu genießen. Sie konnte nicht ahnen, dass sie mitten in den Lockdown hinein reist und plötzlich vollkommen isoliert war statt im Sonnenschein die neue Stadt und ihre Menschen kennenlernen zu können. Da auch ihre Band Chastity Belt während der Pandemie auf Eis lag, begann sie neue Songs zu schreiben, deren Grundstimmung nun der Titel des daraus entstandenen zweiten Soloalbums geworden ist: Zorked. Man kann das wohl frei übersetzen mit „Den Zonk gezogen“, die Plattenfirma bietet auch die Erklärungen „neben sich stehend“ oder „extremely stoned“ an. Die angebliche Stadt der Engel wird bei ihr jedenfalls zu einer menschenleeren Wüste, in der sich allenfalls Geister oder Lebensmüde tummeln. „Es nimmt dich auf einen ziemlich wilde Fahrt mit. There’s weird shit in it“, sagt sie über die während des Lockdowns im improvisierten Heimstudio entstandene Platte. Die erste Single heißt Come With Me (***) und geht auf eine Rucksacktour in den Bergen von Colorado zurück, die mit einem ziemlich miesen Pilz-Trip endete. „Ich sah ständig böse Gesichter in den Bergen. Der Song wurde teilweise durch diese Erfahrung inspiriert, aber er passt letztlich auf jede beliebige Zeit, in der ich voller negativer Gefühle bin und außer Kontrolle gerate. Es geht darum, dieser Situation nachzugeben und sich von seinen Gedanken an die dunkelsten Orte führen zu lassen“, sagt Julia Shapiro. „Take me to awful places now“, lautet entsprechend die Aufforderung im Text, begleitet von schrägen Gitarrenakkorden, Shoegaze-Atmosphäre, gruselig kalten Synthesizern und einem entsprechend psychedelischen Video. Das Album soll im Herbst folgen.
Dann soll auch das Debüt von Lauren Spear alias Le Ren vorliegen, die im vergangenen Jahr viel Lob für ihre EP Morning & Melancholia erhalten hat und am 15. Oktober nun auf Albumlänge zu erleben sein wird. Die Künstlerin aus Montreal hat für Leftovers mit Produzent Chris Cohen und zahlreichen Gästen zusammengearbeitet, wobei die Aufnahmen auch Pandemie-bedingt in vielen kleinen Etappen an sehr unterschiedlichen Orten stattgefunden haben. Die Leadsingle Dyan (****) hat auch im Inhalt einen Corona-Bezug: „Ich wollte beschreiben, wie ich mich meiner Mutter ewig verbunden fühle, obwohl ich weit weg von ihr lebe, vor allem während der Pandemie, wenn sich die Entfernung größer anfühlt als zuvor“, erklärt sie. „Ich werde ständig an ihre Liebe erinnert – wenn ich sehe, wie sich der Himmel in einem bestimmten Blauton färbt, wenn ich silbergraues Haar habe, in der Musik, die ich wegen ihr mache und höre. Ich erkenne sie auch in der Art, wie ich spreche und wie ich bestimmte Emotionen verarbeite.“ Diese sehr zärtliche und intuitive Beziehung wird im sanften Gitarrenpicking und behutsamen Besenschlagzeug ebenso deutlich wie in dezenten Streichern. Entsprechend zeigt das Video die Bedeutung von „Berührungen und Gesten, die uns von unseren Müttern oder Erziehungsberechtigten beigebracht werden“, sagt Regisseurin Ali Vanderkruyk, bevor ganz am Ende auch noch verraten wird, wie der Künstlername von Le Ren entstanden ist. „Die visuellen Eindrücke, die wir in der Kindheit lernen, prägen unsere Art, die Welt zu sehen und zu verstehen. Und für Le Ren, die sich so sehr ihrer Familie verpflichtet fühlt, ist die Ausübung dieser Gesten so natürlich wie das Atmen. Ihre Wärme zu zeigen, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Musik.“
Nach einem Top-10-Airplay-Hit (die Single Better Tomorrow erreichte in Deutschland diesen Status) mit einem (vorsichtig) sozialkritischen Song nachzulegen, ist nicht unbedingt typisch, aber Matt Simons macht das mit Too Much (**1/2). Der Singer-Songwriter, der aus Kalifornien stammt, in Brooklyn lebt und in den Niederlanden seinen Durchbruch feierte, geht im Text rund um die Erkenntnis „I never know I’ve had enough `til I’ve had too much“ der Frage nach unserer fehlenden Bescheidenheit und viel zu großen Gier nach, sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Natürlich bleibt das im Sound dennoch heiter, durch einen kraftvollen Shuffle-Beat, euphorische Bläser und eine kurze Passage mit Pfeifen. Der Song ist entstanden mit seinem langjährigen Freund und Kollaborateur Chris Ayer, dem niederländischen Songwriter Léon Paul Palmen und dem schwedischen Produzenten Hampus Lindvall, der unter anderem mit Zara Larsson gearbeitet hat. „Das Video soll die vergangenen 1,5 Jahre der Pandemie darstellen, in denen wir alle feststeckten und isoliert in unseren eigenen Kisten lebten“, verrät Matt Simons. „Bild für Bild füllt sich die Box mit verschiedenen Elementen, bis sie uns so sehr dominieren, dass es sich schließlich für jeden von uns ‚zu viel‘ anfühlt.“
Die Frage, wie man die erste große Party nach dem Ende der Pandemie (oder nur das erste Wiedersehen mit Freunden) feiert, stellen sich in diesen Tagen ja viele Menschen. Balthazar haben eine sehr überzeugende Antwort darauf gefunden: Als es Anfang des Jahres endlich wieder erlaubt war, traf sich die Band aus Belgien für ein paar Nächte in einem Schloss in der Nähe von Brüssel. Dort haben sie das aktuelle Album Sand komplett für ein paar eingeladene Freunde live gespielt und das Ergebnis in einer Kurz-Dokumentation unter Regie von Heleen Declercq eingefangen. Zugleich hat die Gruppe um die Songwriter Jinte Deprez und Maarten Devoldere dort die EP Sand Castle Tapes aufgenommen, die am 24. September erscheint. Das Werk enthält acht überarbeitete Versionen der Songs von Sand und zwei neue Stücke. „Man versteht ein Album erst vollständig, wenn man es gemeinsam auf die Bühne bringt. Die entspannten Umstände im Schloss führten zu einer ganz anderen Interpretation der Songs, als wir sie bei einer normalen Liveshow spielen würden. Es ist erfrischend, es ist sehr menschlich“, sagen Balthazar. Das belegt Moment (***), das auf einem vibrierenden Rhythmus-Fundament beruht und von Bläsern und einem Chor unterstützt wird. Und wenn man ein ganzes Schloss als Studio hat, kann man offensichtlich auch problemlos den Corona-Mindestabstand einhalten.