Corona-Musik 22 mit Biffy Clyro, Someone, Nightmares On Wax, Tora und Rosie Lowe

Biffy Clyro The Myth Of The Happily Ever After
Trendsetter: Biffy Clyro haben den Proberaum in ein Studio verwandelt. Foto: Check Your Head / Ash Roberts

Man kennt das von Biffy Clyro und auch von anderen Bands: Wenn ein Album fertig ist (in ihrem Fall das 2020 erschienene A Celebration Of Endings, mit dem sie die Spitze der Charts im UK und die Top5 in Deutschland erreicht haben) und man zum ersten Mal wieder ein bisschen Ruhe hat, sichtet man das Material, das von der Arbeit im Studio übrig geblieben ist, um zu schauen, ob sich daraus vielleicht noch etwas machen lässt. Normalerweise werden B-Seiten oder andere Nebensächlichkeiten daraus, bei den drei Schotten ist aus diesem Prozess nun gleich ein neues Album hervorgegangen. The Myth Of The Happily Ever After wird am 22. Oktober erscheinen, und das hat viel mit den Auswirkungen von Covid-19 zu tun. Denn erstens fiel die gerade bei Biffy Clyro üblicherweise zu einem Album gehörende Tournee aus (Konzerte sind allerdings demnächst geplant, auch mit sechs Stationen in Deutschland im Februar 2022), sodass plötzlich viel zusätzliche Zeit war. Zweitens war auch keine Reise in teure Studios mit Starproduzenten möglich, wie zuletzt nach Los Angeles zu Rich Costey. Stattdessen nahmen Simon Neil, James Johnston und Ben Johnston zuhause an der schottischen Westküste auf. Ihren Proberaum in einem Bauernhaus bauten die Johnston-Brüder eigenhändig in ein Studio um. „Es ist sozusagen unser erstes Album, das wir komplett im Schottenrock aufnahmen“, scherzt Sänger Simon Neil. In nur sechs Wochen und erstmals komplett in Eigenregie war The Myth Of The Happily Ever After fertig, das die Band als melancholisches Gegenstück zum optimistischen Vorgänger betrachtet. „In diesem neuen Album steckt eine regelrechte Reise: All die Gedanken, Gefühle und Stimmungen, die wir in den vergangenen 18 Monaten hatten, kommen in diesen neuen Liedern zusammen“, kündigt Neil an. Der erste Vorbote ist das heute erscheinende Unknown Male 01 (****), das den Selbstmord von Freunden thematisiert. „Wenn du Menschen verlierst, die du wirklich geliebt hast und die eine entsprechend große Rolle in deinem Leben gespielt haben, dann kann das durchaus dazu führen, dass du dein eigenes Leben danach komplett in Frage stellst“, erläutert Simon Neil den Hintergrund des Songs, der in gut sechs Minuten fast alle Stärken dieser Band vereint, von Sensibilität über Aufbegehren bis hin zum schmalen Grat zwischen verzweifelter Wut und der Zuversicht, die aus dem Zusammenhalt erwachsen kann, von Orgel-Sanftheit über komplexe Grooves bis hin zur puren Kraft eines harten Riffs. „Wie so viele Menschen habe auch ich mit düsteren Gedanken zu kämpfen. Wenn man diese Veranlagung hat, ist einem schon klar, dass man da in einen Abgrund schaut – aber man will sich davon nicht unterkriegen lassen“, sagt Neil. „Diese Momente kommen immer wieder. Darum heißt es im Songtext auch ‚The devil never leaves.'“

Auch Tora dürften zuletzt für steigende Preise auf dem Markt von gebrauchtem Recording-Equipment gesorgt haben. Das australische Trio zog Anfang 2020 von Byron Bay nach Amsterdam, das sie als Ausgangspunkt für eine Konzertreise durch Europa und die USA nutzen wollten. Dann kam Corona – und als klar wurde, dass man für unbestimmte Zeit nicht nur als Transitzentrum, sondern als temporäres Hauptquartier in Amsterdam bleiben musste, rüsteten Tora das dort angemietete Studio auf und stürzten sich in die Arbeit. Dabei sind die elf Stücke entstanden, die nun das dritte Album A Force Majeure bilden. „Für uns hat dieses Album inmitten all des Chaos, das weltweit herrscht, ein Gefühl der Erleichterung gebracht“, sagt Sänger Jo Loewenthal. „Das ist es, was wir mit der Welt teilen wollen. Zu sich selbst zurückkehren und an sich selbst arbeiten, damit man positiv nach außen wirken kann: das ist die Botschaft. Persönliches Wachstum, an sich selbst arbeiten, damit man anderen helfen kann. Nimm nicht nur, gib auch. Geben ist dasselbe wie nehmen; wenn du gibst, nimmt jemand anderes. Das kommt letztendlich wieder zurück.“ Ein Song wie In Deeper (***1/2) bestätigt die Sensibilität und Selbstlosigkeit, die aus diesem Zitat spricht. Obwohl es fast keine analogen Instrumente gibt, strahlt das Lied eine große Wärme aus, wozu auch eine feine Balance aus Tanzbarkeit und Rätselhaftigkeit sowie die ebenso individuelle wie wandelbare Stimme von Loewenthal beiträgt. Das Video dazu ist nicht in den Niederlanden entstanden, sondern den Colors-Studios in Berlin. Im November sollen Tora ebenfalls wieder in Deutschland zu erleben sein, bei Shows in Köln (10.11., Yuca), Hamburg (11.11., Nochtspeicher) und Berlin (12.11., Prince Charles).

Auch die niederländisch-britische Künstlerin Tessa Rose Jackson alias Someone hat den Lockdown in Amsterdam verbracht, dort ist ihr Debütalbum Shapeshifter entstanden, das am 10. September herauskommt. Ihre Musik hat das LOCK Magazine als „Psych-pop dripping in intimacy and surrealism“ beschrieben, ein solcher Sound passt natürlich bestens zur Ungewissheit, Angst und Isolation während einer globalen Pandemie, in der oft genug nur die Fantasie eine Möglichkeit bietet, dem tristen Alltag sowie Erlebnissen und Erfahrungen, die man noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehalten hätte, zu entfliehen. In der neuen Single I’m Not Leaving (***1/2) geht es darum, einer befreundeten Person aus einer schweren Krise zu helfen, mit Aufmerksamkeit, Beistand und der Erkenntnis, dass wir alle einmal – zumal in Corona-Zeiten – in so ein dunkles Loch fallen können. „In der heutigen Zeit kann es leicht passieren, dass man sich in Gedanken wie ‚Was ist der Sinn des Ganzen?‘ oder ‚Ich bin unwichtig‘ verliert. Die Zeile in dem Song ‚Did no-one teach you / that nobody’s see-through?‘ ist als Bestätigung gedacht: Du bist wichtig!“, sagt Tessa Rose Jackson. Diese Kombination aus Empathie und einer durchaus bedrohlichen Situation hört man dem Song gut an, auch das Video findet eine reizvolle Entsprechung für diesen Mix aus Trost und Verstörung: Der Clip zeigt eine Initiations-Zeremonie, bei der eine Person einen magischen Stein an ihr jüngeres Gegenstück weitergibt, das sich dann allein in die Wildnis begibt. Die Künstlerin erklärt: „Während ihrer Reise werden sie ihren eigenen magischen Stein zusammensetzen, um ihn eines Tages an die nächste jüngere Person weiterzugeben… und so geht der Kreislauf weiter.“ Für ihr weiteres Schaffen hat Someone ein Ziel, das man sicher auch gerne als Motto (mindestens) für die Zeit der Pandemie aufgreifen darf: „Staying positive and staying playful.“

Die Sehnsucht nach Miteinander prägt auch die neue EP von Rosie Lowe, auch wenn sich das bei der Britin eher auf den Produktionsprozess bezieht. Ihre gerade (ausschließlich digital) veröffentlichte EP Now, You Know hat sie in einer – wir kennen das ja schon – zum provisorischen Studio ausgebauten Hütte im englischen Devon aufgenommen. Die dort während der Pandemie entstandenen Grundideen wollte sie dann gerne mit befreundeten Musiker*innen weiter ausarbeiten, aber das erwies sich durch die Pandemie-bedingten Einschränkungen schwierig. „Weil ich nicht physisch in einem Raum mit Menschen zusammen sein konnte, kristallisierte sich die Möglichkeit heraus, dieses Projekt alleine zu verwirklichen, während ich aus der Ferne mit verschiedenen Menschen zusammenarbeitete, die ich liebe und bewundere, egal wo sie sich befinden. Ich fühlte ein neues Gefühl der Freiheit, etwas abseits von den Terminen eines Labels zu kreieren, und es hinterließ in mir den starken Wunsch, etwas zu schaffen, das meine aktuelle Situation einfängt, ohne zu viel darüber nachzudenken“, sagt Rosie Lowe, die mit dem Vorgänger-Album YU (2019) zu einer der meistgespielten Künstler*innen bei BBC 6Music avanciert ist. Per digitalem Austausch beispielsweise mit Andrew Sarlo (Big Thief, Nick Hakim), Tom Henry (Gotts Street Park), AVI (Eska, Arlo Parks) und Tom Driessler (Yussuf Kamaal, Jordan Rakei) nahmen die neuen Songs dann ihre endgültige Gestalt an. Ein Beispiel ist die Single Paris, Texas (***1/2), der man die unbefangene, organische, intime und reflektierte Entstehungsweise gut anhört, ebenso wie eine latente Unruhe und innere Aufgewühltheit. Wenn Morcheeba jemals Tiefgang anstreben sollten, könnte so etwas herauskommen.

Innere Einkehr war während der Pandemie auch ein Thema für einen Mann, von dem man das wohl kaum erwartet hätte: George Evelyn alias Nightmares On Wax prägt seit 30 Jahren und mit mittlerweile bereits neun Alben die elektronische Musik. Der DJ und Produzent aus Leeds hat die Party-Insel Ibiza zu seiner Wahlheimat gemacht und steht normalerweise mehrmals pro Woche auf einer Bühne, um einer tanzwütigen Menge einzuheizen. „Ich habe 10 Jahre lang ununterbrochen Konzerte gegeben“, sagt er. „Und diese Erfahrung war wunderschön, aber sie hat mich auch emotional ausgelaugt.“ Corona war für ihn die Chance zum Runterkommen, zum Entschleunigen und Reflektieren zuhause mit seiner Frau und seiner Tochter. „Ich habe das Gefühl, von etwas befreit worden zu sein, und ich werde jetzt zu dem, was ich wirklich bin“, sagt er im Rückblick. Diese Erfahrung – verstärkt durch eine zwischenzeitliche Krebs-Diagnose, die sich dann aber schnell als harmlos herausstellte – prägt nun auch sein neues Werk Shout Out! To Freedom…, das am 29. Oktober in den Regalen stehen soll. „Ich erinnere mich, dass ich beim Schreiben dieses Albums ein Gespräch führte, in dem ich sagte, dass ich dieses Album so angehen muss, als ob es das letzte wäre, das ich jemals schreiben würde“, sagt George Evelyn. „Ich habe mich gefragt: Was würde ich tun? Wie tief würde ich gehen? Es war eine gewisse Ironie, dass ich dieses Gefühl eine Zeit lang tatsächlich hatte. Besonders in den zwei Wochen, in denen ich nicht wusste, wie die Ergebnisse hinsichtlich des Verdachts auf die Krebserkrankung aussehen würden.“ Es ist also kein Wunder, dass er über Shout Out! To Freedom… sagt, es sei „wahrscheinlich die tiefgründigste Platte, die ich je geschrieben habe“. Als Gäste dabei sind Shabaka Hutchings, Mara TK, Sabrina Mahfouz. Greentea Peng, OSHUN und Pip Millett. Beim Vorab-Track Own Me (***1/2) ist Haile Supreme mit an Bord. Das Stück ist in der Tat überraschend introvertiert, natürlich sorgt insbesondere der Bass dennoch für Groove, in Summe könnte man sich das wie eine moderne Interpretation von Marvin Gaye vorstellen. Die Freiheit von Nightmares On Wax („Jeder hat eine andere Vorstellung davon, jeder hat ein anderes Konzept davon. Mir ist klar geworden, dass wir alle innerlich frei von unserem Scheiß sein wollen, und es spielt keine Rolle, was es ist. Jeder will von etwas frei sein.“) soll demnächst auch wieder live gefeiert werden, unter anderem am 23. Februar 2022 in Köln (Gloria) und am 27. Februar 2022 in Berlin (Metropol).

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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