Zählt man die ersten Fälle von Ende 2019 in China dazu, befinden wir uns im vierten Jahr der Covid-19-Pandemie, und das Virus und seine Folgen haben weiterhin ebenso gravierende wie erstaunliche Auswirkungen auf die Musikwelt. Das zeigt auch der neuste Beitrag in der Shitesite-Reihe „Corona-Musik“. So haben sich Tempers für ihre neue Single Nightwalking (***1/2) beispielsweise vom menschenleeren New York City inspirieren lassen, als viele während des Lockdowns recht spontan die Stadt verließen und etliche ihrer Habseligkeiten teilweise mitten auf der Straße zurück ließen. „Die Stadt wurde sehr surreal – eine umgedrehte Geisterstadt“, sagt Sängerin Jasmine Golestaneh. „Ich dachte darüber nach, wie ich offen bleiben und dieses entgleiste Leben annehmen konnte. Der Himmel über der Stadt war ein wahres Mysterium, in seiner eigenen Welt der rosafarbenen Sonnenuntergänge und der funkelnden Nächte. Der Kontrast dieser selbstvergessenen Schönheit inmitten des pandemischen Chaos fühlte sich sehr speziell an und inspirierte den Song.“ Das Lied klingt in der Tat somnambul und irritiert, zugleich ist da eine erstaunliche Unerbittlichkeit im Beat. Man kann an Watte, Wolken und Nebel denken, oder eben ans nächtliche Flanieren durch eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Gemeinsam mit ihrem Tempers-Partner Eddie Cooper hat Jasmine Golestaneh neun weitere Songs für das am 1. April erscheinende neue Album New Meaning erschaffen, das vom „Leben in einer Gesellschaft, die immer noch ein Traum von sich selbst ist“ handeln soll. Ihr synthetischer Sound, der immer gleichzeitig nach Zukunft und Vergangenheit, nach Verheißung und Verdammnis klingt, passt natürlich bestens zu diesem Ansatz und in eine Zeit, in der die Krise zum Dauerzustand zu werden scheint. Zum Album wird es ein Begleitbuch mit Originalgrafiken und -texten geben, das handgefertigte Collagen von Jasmine Golestaneh enthält.
Für den 27-jährigen Hamburger Lejo war Corona eine Vollbremsung für seine gerade Fahrt aufnehmende Karriere. Seit vier Jahren schreibt er eigene Songs, ein paar davon wurden im Netz entdeckt und brachten ihm neben einem Plattenvertrag auch Konzerte im Vorprogramm von Antje Schomaker oder Bosse ein, außerdem zwei eigene Tourneen. Dann landete die Welt der Livemusik komplett im Lockdown. „Ich stand auf einmal still, musste mich und all meine Pläne auf Eis legen und neu sortieren“, erzählt er. Ergebnis war unter anderem ein neues Hobby (er schraubt jetzt an alten Vans und Motorrädern) und ein Nebenjob (er gibt Musik-Kurse an einer Hamburger Schule). Vor allem aber ist in der Zwangspause jede Menge neues Material entstanden. „So richtig konnte ich die Musik in meinem Kopf dabei nicht ausschalten. Ich hab‘ Lieder geschrieben ohne Ende. Wenn bei mir eine Idee einschlägt, muss ich sie sofort umsetzen – ohne Rücksicht darauf, ob es gerade helllichter Tag oder finstere Nacht ist“, sagt Lejo. Eines der Resultate, die mit Produzent Robert Stevenson (Mighty Oaks, Fil Bo Riva, Von Wegen Lisbeth) umgesetzt wurden, ist Meine Seite (**1/2). Das Lied ist leichtfüßig, heiter und angenehm, auch wenn die Tanzbarkeit und die besonders ausgelassene Passage nach dem Refrain etwas hineingepresst wirken. Sympathisch ist auch der sehr uneitle Inhalt. „Ab und zu treffe ich Personen, die so wahnsinnig beeindruckende Eigenschaften und Charakterzüge tragen, dass ich sie nie wieder aus meinem Leben lassen möchte. In der Hoffnung, dass diese Attribute irgendwann ein wenig auf mich abfärben“, erklärt Lejo dazu. Solche inspirierenden Begegnungen sollten für uns alle ja bald wieder häufiger möglich werden, und vielleicht klappt es dann auch mit der zweiten Zündstufe für die Karriere von Lejo.
Für Simon Love war die Pandemie so etwas wie ein Segen. „Trotz Corona, all dem Sterben und dem ganzen Händewaschen ist es mir überraschenderweise noch nie so leicht gefallen, ein Album aufzunehmen. Wir waren voller Konzentration bei der Sache!“, sagt er über die Arbeiten am neuen Longplayer, der im Juli und November 2020 in London aufgenommen wurde. Da hat wohl das Fehlen von Ablenkung und Vergnügen nach Feierabend seinen Beitrag geleistet, vielleicht auch das Gefühl, dass man sich in so einer Situation glücklich schätzen darf, in einem Tonstudio überhaupt weiter seiner Arbeit nachgehen zu dürfen. Das neue Werk von Simon Love & The Old Romantics wird am 8. April erscheinen und Love, Sex And Death etc. heißen. In I Love Everybody In The Whole Wide World (Except You!) (****) geht es um nichts davon, vielmehr ist es eine lupenreine Abrechnung mit schicken Streichern, etwas windschiefem Harmoniegesang, ein paar Samples und einem Finale, in dem aus der vorgeblichen Midtempo-Gemütlichkeit dann eine äußerst reizvolle akustische Gehässigkeit wird.
Mehnersmoos sind ein Ü30-Duo aus Frankfurt. Als Hobbys benennen sie: Saufen, Schlafen und dumme Scheiße labern. Wer jetzt mitdenkt, merkt schnell: Zwei dieser drei Tätigkeiten lassen sich unter Pandemie-Bedingungen nur sehr eingeschränkt umsetzen. Denn sowohl Alkoholkonsum als auch Sprücheklopfen sind ohne Kontaktbeschränkungen dann doch etwas lustiger. Deshalb haben Mehnersmoos die Zeit genutzt, um ein Album zu machen. „Jedes Lied ist wie ein Abend mit Freunden am Wochenende im Urlaub ohne Termine und mit 8000 Bierflaschen“, lautet die Ankündigung für die Platte, die Pennergang heißen und am 4. März erscheinen wird. Die gleichnamige erste Single (****) ist bereits draußen. Neben viel Liebe für Wicküler Bier und tiefe Bässe gibt es darin Spitzen-Rhymes, tonnenweise Scheißdrauf und ein Video, als hätten New Kids Turbo erst die Garderobe von Judas Priest ausgeraubt und seien dann unter die Gangster-Rapper gegangen. Nicht nur für Fans von K.I.Z., mit denen Mehnersmoos schon 2020 die Single Rossmann veröffentlicht hatten, ist das ein Mega-Vergnügen.
Neben all den neuen Eindrücken, veränderten Rahmenbedingungen und durchkreuzten Plänen durch Corona gibt es natürlich auch dieses Phänomen: Musiker, die selbst an Covid-19 erkranken. Einer davon ist Paul Michael „Dave“ Davies, Gitarrist von Mammoth Weed Wizard Bastard, die sich künftig nur noch MWWB nennen. Ihn hat es so heftig erwischt, dass nicht nur das ursprünglich für März 2021 geplante Album der Band aus Wales verschoben werden musste, sondern er auch um sein Leben bangen musste. Nach der Corona-Infektion erlitt er einen schweren Schlaganfall. „Seitdem war es ein langer und beschwerlicher Weg für ihn. Er musste in ein künstliches Koma versetzt werden, während die Ärzte darum kämpften, seine Sauerstoffwerte aufrechtzuerhalten. Viele Monate lang ging es drunter und drüber, und irgendwann hieß es, wir müssten uns endgültig von ihm verabschieden. Während wir alle auf diesen schrecklichen Tag warteten, hatte Dave andere Vorstellungen. Entgegen den Voraussagen der Ärzte kam er kämpfend zurück“, berichtet Sängerin Jessica Ball. Mittlerweile absolviert er eine Reha und muss dabei auch Sprechen und Laufen neu lernen. Für die Platte namens The Harvest gibt es ein neues Veröffentlichungsdatum für das vierte Album der Band, nämlich den 25. März 2022. Den mehr als neun Minuten langen Titelsong (***) koppeln MWWB bereits jetzt als Single aus. Es wirkt, als hätten sie reichlich Metal und ein dickes Geheimnis über Referenzen wie Pink Floyd und John Carpenter gekippt, die sie als wichtigste Referenzpunkte für das Album benennen. „The Harvest, sowohl als Song als auch als Album, repräsentiert eine Reihe von Emotionen… es war nicht geplant. Es ist eine rohe Echtzeit-Erfahrung der Verarbeitung von Schwierigkeiten sowohl im persönlichen als auch im allgemeinen Leben. Es ist emotional verstreut, ähnlich wie das Spektrum der Reaktionen und Gefühle, die wir als Reaktion auf das Leben durchlaufen. Im Vergleich zu unseren anderen Alben fühlt sich The Harvest für uns so an, als würden wir ernten, was wir gesät haben“, sagt Ball, die auch noch Genesungswünsche parat hat, die in diesen Zeiten natürlich besonders wichtig sind: „Ich bin so glücklich, dass das Album, das wir aufgenommen haben, bevor Dave krank wurde, im März veröffentlicht wird. Ich sende meine Gedanken, meine Liebe und meine größte Kraft an alle, die von diesem Virus betroffen sind.“