Corona-Musik 3 mit Grillmaster Flash, Jehnny Beth, Idles, American Football, Sparta und Two Door Cinema Club

Jehnny Beth Heroine Review Kritik
Heldin wider Willen: Jehnny Beth. Foto: Verstärker/Johnny Hostile

„Manchmal ist die Arbeit mit Einschränkungen der beste Treibstoff“, hat Jehnny Beth durch Corona gelernt. Sie bezieht diese Aussage auf ihre neue Single Heroine (****), genauer gesagt auf den Videodreh mit Johnny Hostile, der zwangweise komplett zuhause stattfinden musste. Die Idee, daraus das Beste zu machen, „passt perfekt zur positiven Botschaft des Selbstbewusstseins und der Widerstandsfähigkeit in diesem Song, der dazu aufruft, seine Kindheitsträume nicht aufzugeben. Spoiler-Alarm: Wenn du das Video bis zum Ende anschaust, entdeckst du unwiderstehlich nostalgisches Melodrama, das einige meiner Familienmitglieder zu Tränen gerührt hat.“ Extrem clevere Beats und ein Gefühl der Bedrängnis prägen den Sound, das Video macht daraus zudem einen rührenden Verweis auf den Kampf um die eigene Identität. Das Lied, für das Jehnny Beth das gute Zureden von Romy Madley Croft (The XX) und Produzent Flood brauchte, um wirklich selbst in die Rolle der besungenen Heldin zu schlüpfen, entstammt ihrem Debütalbum To Love Is To Live, das am 12. Juni erscheinen wird. „Ich erzähle diese Geschichte wohl, weil wir manchmal nach Vorbildern Ausschau halten, ohne zu bemerken, dass die Antwort, nach der wir suchen, in uns selbst verborgen sein kann. Ich hatte Angst, die Heldin des Songs zu sein, und brauchte Leute um mich herum, um mich dorthin zu bringen.“

Der Blick für die kleinen Tragödien und großen Triumphe im stinknormalen Jungeleuteleben zeichnet Grillmaster Flash schon immer aus. Mit Sie warten auf sich (****) überträgt der Künstler aus Bremen, der zuletzt mit Madsen und Thees Uhlmann auf Tour war, dieses Talent nun auf die Corona-Situation, und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Erstens geht es in diesem Lied um die Tragik des Lockdowns: Man stelle sich vor, man flirtet, im Club, im Park oder bei einem Festival, man tauscht vielleicht sogar Nummern aus, und dann muss man wegen der Pandemie monatelang warten, bis man sich endlich wiedersehen, knutschen und weitermachen kann. Zweitens verlegt Grillmaster Flash das Kennenlernen bereits, ebenfalls Covid-19-bedingt, in den virtuellen Raum, wozu der One-Shot-Clip des Bremer Video-Künstlers Henrik Paro eine tolle Entsprechung findet: Ein Mädchen aus Mühlheim und ein Junge aus Schwerin lernen sich in Sie warten auf sich bei einem Streaming-Konzert kennen, im Chat erkennen sie ihre gegenseitige Sympathie, bald sind sie dort mehr aneinander interessiert als am sonstigen Geschehen auf dem Bildschirm (inklusive des Konzerts), am Ende steht der Wunsch, sich sofort ins Auto zu setzen, um aus digitalen Nachrichten und Emojis so schell wie möglich eine echte Begegnung und vielleicht mehr zu machen. Der Song, der als limitierte 7“-Single erscheinen wird, packt diese Szenerie in einen passenden Eighties-Rocksound à la John Mellencamp. Die wichtigste Antriebskraft ist aber die Romantik, der unbändige Wunsch, aus einer flüchtigen Zuneigung bei der nächsten Gelegenheit vielleicht eine große Liebe zu machen, „egal wann das ist“. Hoffen wir für alle in Mühlheim, Schwerin und sonstwo, dass das sehr bald sein wird.

Apropos virtuelle Konzerte: Sparta haben im April nicht nur überraschend nach vierzehn Jahren Pause ihr viertes Album Trust The River veröffentlicht. Die Band um Jim Ward (ehemals Gitarrist bei At The Drive-In) startet nächste Woche auch eine Welttournee, um das Comeback ausgiebig zu feiern. Genauer gesagt ist eine digitale “11 Hour World Tour“ angekündigt, als Ersatz für die ursprünglich geplanten Kozerte, die wegen Corona nicht stattfinden können. Das bedeutet: Sparta spielen insgesamt drei live gestreamte Konzerte innerhalb von 11 Stunden, die möglichst viele Zeitzonen auf der Erde abdecken sollen, damit sich möglichst viele Fans einen Eindruck davon machen können, wie neue Songs wie das gefühlvolle Empty House (***) live klingen. Los geht es am 12. Juni um 20 Uhr unserer Zeit mit dem Europa-Teil, es folgen Shows für Nordamerika sowie Japan, Australien und Neuseeland. „Wir haben lange überlegt, wie wir uns für den unglaublichen Support und die netten Worte zur neuen Platte bedanken, und gleichzeitig alle Vorsichtsmaßnahmen einhalten können. Ich glaube, das ist der ideale Weg und Moment dafür“, sagt Jim Ward. „In meinem Kopf werde ich mir all die Orte und Städte vorstellen, an denen ich gerade gerne wäre, und die Gesichter, die ich gerade vermisse, und die ich hoffe bald wiedersehen zu dürfen. Wir werden diese Shows auch aufzeichnen und im Anschluss als gemischte Version für alle Ticketkäufer zur Verfügung stellen. Also stell dir ein paar Getränke kalt und sei dabei. Ich vermisse euch alle!“ Ein Ticket kostet 10 US-Dollar, alle Einnahmen gehen an die  El Paso Community Foundation und an Black Lives Matter.

Joe Cocker, Maximo Park, Johnny Depp und Snow Patrol haben schon Isolation gecovert, den Song, den John Lennon 1970 auf seinem ersten Soloalbum veröffentlicht hat. Den naheliegenden Gedanken, das Stück nun in den Kontext von Covid-19 zu stellen, setzen Two Door Cinema Club mit ihrer eigenen Version (***1/2) um. Frontmann Alex Trimble, der das Stück alleine in seinem Heimstudio eingespielt hat, zeigt darin eine erstaunliche stimmliche Verwandtschaft zu Lennon, das Schlagzeug (ursprünglich von Beatles-Kollege Ringo Starr eingespielt) und der Bass (damals von Klaus Voormann beigesteuert) werden durch einen Drumcomputer beziehungsweise Sequenzer ersetzt, was dazu führt, dass die größtenteils wohlige Atmosphäre der Vorlage durch ein Gefühl von Entfremdung ersetzt wird, schließlich ist der Rückzug ins Private hier nicht selbst gewählt oder als Vorwurf an andere gerichtet, sondern geschieht zwangsweise und muss selbst bewältigt werden. Die Einnahmen der Coverversion gehen an Extern, eine irische Wohltätigkeitsorganisation, die während des Corona-Lockdowns ihren Schwerpunkt darauf gesetzt hat, isolierten und gefährdeten Menschen und Familien zu helfen.

Einer der wenigen Vorteile des Social Distancing: Wenn man in diesen Tagen tanzt, schaut meistens niemand zu. Diesen Effekt wollen Idles mit der neuen Single Mr. Motivator (***1/2) feiern, die zugleich der erste Vorbote auf das dritte Album der Band aus Bristol ist. „Wir möchten diese Reise mit einer Maßnahme beginnen, die nicht nur das Gefühl des Albums verkörpert, sondern unser Publikum ermutigt, so zu tanzen, als würde niemand zuschauen. Wir wollen diese dunklen Zeiten mit einer zwei Tonnen schweren Machete von einem Song und der schönsten Gemeinschaft von Drecksäcken, die sich je zusammengetan haben, durchpflügen. Let’s go! All is love!“, sagt Frontmann Joe Talbot dazu. Entsprechend brachial, energisch und durchgeknallt klingt der Song. Als kleinen Sevice haben Idles noch ein Workout-Musikvideo dazugepackt, das Band und Fans beim Training zeigt. So kann man wohl problemlos die Fitness aufbauen, um nach der Pandemie all die Kacke zu vertreiben und all den Deppen in den Arsch zu treten, die Idles hier so treffend ins Visier nehmen. „Let’s seize the day“ – das sollte natürlich auch im Lockdown das Motto bleiben.

American Football haben anlässlich der Corona-Lage einen eigenen Klassiker neu eingespielt. Natürlich geht es um Stay Home (***), für das die Band auch ein neues Video gemacht hat, vorbildlicherweise mit allen vier Mitgliedern in den eigenen vier Wänden an ganz unterschiedlichen Orten der USA. Die einzelnen Spuren ergeben durch die Beschränkung auf unverstärkte Instrumente einen ziemlich magischen Effekt, zugleich kann man erleben, wie die „2020 Reprise“ des ursprünglich 1999 veröffentlichten Songs auch dazu führt, die Bandmitglieder selbst wieder miteinander zu verbinden. „Viele Menschen, uns eingeschlossen, haben einen natürlichen Hang zum Zuhausebleiben. Seltsamerweise gilt das jetzt nicht mehr als anti-sozial, sondern als das einzig verantwortungsvolle Verhalten“, schreiben American Football dazu. „Wir hoffen, dass unser Video zumindest etwas Ablenkung von all den angsteinflößenden Nachrichten und der Angst vor der Zukunft bietet.“

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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