Corona-Musik 32 mit Tom Chaplin, Melby, The Happy Fits, Poledance und Lean Year

Tom Chaplin Midpoint
Die Corona-Zwangspause führte Tom Chaplin zum dritten Soloalbum. Foto: Derek Hudson

Einer der ganz, ganz wenigen Pluspunkte an Covid-19: Es ist demokratisch, sogar egalitär. Das Virus unterscheidet nicht, wen es befällt. Ein Obdachloser kann ebenso infiziert werden wie der US-Präsident. Ein austrainierter Sportler kann schwer erkranken, während eine alte Frau einen milden Verlauf hat. Oder umgekehrt. Ein wenig lässt sich dieser Corona-Effekt auch in der Musikwelt beobachten: So sehr viele Newcomer unter der Pandemie leiden, so wenig Rücksicht nimmt sie auch auf große, etablierte Bands. Das mussten beispielsweise Keane erleben, als sie 2020 ihre „Cause and Effect“-Tour unterbrechen mussten. Frontmann Tom Chaplin nutzte die ungewollte Vollbremsung, um sein drittes Soloalbum zu schreiben, das heute unter dem Titel Midpoint veröffentlicht wird. Der Titel deutet die Ernsthaftigkeit des Werks schon an: Der 43-Jährige hat erkannt, dass seine Jugend endgültig vorbei ist und nun die zweite Hälfte des Lebens beginnt. Vielleicht auch als Nachwirkung des Covid-Schocks entstanden bei der Arbeit mit Produzent Ethan Johns in Peter Gabriels Real World Studios in Bath und in Paul Epworths The Church in Nordlondon sehr reduzierte Songs. „Ich dachte: Wow, die sind so nackt und kahl im Vergleich zu dem, was ich gewohnt bin! Das fühlte sich etwas beängstigend an, weil es bei Keane-Platten so viele Überlagerungen gibt, um die Dinge zu verdichten und die Räume zu füllen. Aber dies ist eine karge Platte“, beschreibt Tom Chaplin seine eigene Reaktion auf das neue Material. „Ich habe mir den Raum genommen für etwas Nuanciertes, das einen Teil des Lebens erforscht, den jeder durchmacht. Wenn ich etwas davon rüberbringen kann und es mit etwas zu tun hat, was viele Leute in ihrem Leben empfinden – nun, dann wäre ich mehr als glücklich darüber.“ Die Single Gravitational (***) wird im Text sehr grundsätzlich, zeigt aber auch, dass sich der Keane-Sänger nicht direkt in Leonard Cohen verwandelt hat. Bei aller Reflexion über unsere Ursprünge, die wichtigen Dinge im Leben und die unvermeidliche Vergänglichkeit sorgen Beat und Jangle in diesem Lied ebenso für eine Spur von Heiterkeit wie seine Kopfstimme im Refrain. Auch eine Gelegenheit für Liveshows hat Tom Chaplin wieder gefunden: Am 12. September ist er bei einer „Live to Vinyl with Mastercard“-Session in den Metropolis Studios in London zu sehen. Wer die entsprechende Kreditkarte hat, kann dort sein Konzert verfolgen, Fragen im Chat stellen und danach eine limitierte 10″-Platte der Show erhalten.

Als Emilie Rex und Rick Alverson ihre gemeinsame Band Lean Year genannt haben, ahnten sie wohl kaum, wie mager die Jahre tatsächlich sein würden, die ihnen bevorstehen. Denn das Duo aus Richmond, Virginia wurde während der Corona-Zeit richtig arg gebeutelt. Kurz hintereinander starben Vater und Mutter von Rick Alverson, die Mutter von Emilie Rex erkrankte an Krebs, auch seinen geliebten Hund Orca musste das Paar begraben. Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf das heute erscheinende Album Sides gehabt. „Wir wollten unter diesem Titel ursprünglich ein Konzeptalbum machen, auf dem wir über all die Trennungen in der Welt und einige in unseren eigenen Familien nachdenken könnten. Aber dann hat Covid alles und jeden verändert, und wir haben unsere eigenen Verluste erlitten. Die Platte wurde zum Thema Verlust und Trauer“, erzählt Emilie Rex. „In dieser Hinsicht war der Titel Sides immer noch angemessen, jetzt mit Bezug auf unsere individuelle Trauer und die kollektive Trauer, die Ränder von vorher und nachher, den Akt und das Gefühl von während und nachher.“ Ihr Partner Rick Alverson geht bei der neuen Interpretation des Albumtitels noch ein bisschen mehr ins Detail: „Es fühlte sich an wie das Überschreiten einer Schwelle zwischen zwei gegensätzlichen Seiten – der Moment vor dem Konflikt und der Moment, nachdem er vorüber ist, Leben und Tod, der Akt des Lebens und die Erinnerung an diesen Akt. Trauer fühlt sich an wie eine Auseinandersetzung zwischen dem, was man wusste, und dem, was man jetzt weiß. Und oft fühlt sich beides gleichzeitig real und unwirklich an.“ Auch die Single The Trouble With Being Warm (***1/2) behandelt ganz explizit die Effekte der Pandemie, genauer gesagt einfach die zuletzt so schwierig zu stillende Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Begleitet werden Lean Year hier von Elliot Bergman am Saxofon, und der Song erzeugt eine hypnotische und zugleich klaustrophobische Stimmung, in der Verunsicherung und Erschütterung ebenso stecken wie ein kleiner Rest von Hoffnung.

Schon Mitte 2016 hatten sich Lasting Traces aufgelöst, die Band von Daniel Pfeifer. Seitdem hat er kaum noch Musik gemacht, geschweige denn neue Songs geschrieben. Als im Herbst 2020 der Lockdown kam, griff er dann doch wieder zur Gitarre – auch, weil es sonst einfach kaum andere Möglichkeiten zur Ablenkung gab. „Nachdem die ersten Berührungsängste überstanden waren und das Griffbrett nicht mehr klang, als würde es eine andere Sprache sprechen, haben wir uns wieder gern“, sagt er heute, und zwar im Wissen, dass daraus ein neues Projekt entstanden ist, das er Poledance nennt und mit dem er Ende des Jahres das erste Album vorlegen wird. Die „pandemiebedingte Entschleunigung“, sagt er, habe ihn in die Lage versetzt, „mein musikalisches Schaffen wieder aufzunehmen und mich mit den letzten zehn Jahren meines Lebens auseinander zu setzen“. Für die musikalischen Einflüsse der zwischen November 2020 und Dezember 2021 zuhause in Berlin entstandenen Platte hat er noch etwas weiter in die Vergangenheit gegriffen, er benennt beispielsweise Fall Out Boy, Emarosa, Saosin, Paramore und Jimmy Eat World. „Diese Bands haben mir beigebracht, mich emotional auszudrücken. Mit unendlichen Gitarren-Layern, eingängigen Melodien, treibenden Rhythmen und einer vor Energie strotzenden Vocal-Performance möchte ich an jene Zeit anknüpfen und meine ganz eigene Interpretation von dem Ort schaffen, der Platz für die etwas schwereren Gefühle bietet.“ Entsprechend überrascht es kaum, dass die Debütsingle Beautiful (***) nicht nur klingt, als würde eine ganze Band spielen (und zwar eine ziemlich leidenschaftliche und inspirierte), sondern auch ohne Angst vor großer Romantik („Because of you I am the best version I can be“) daherkommt. Angesichts all des Schreckens der Pandemie sind solche Sentimalitäten natürlich erlaubt, und schöne Emo-Songs sind ebenso willkommen.

Man könnte bei einem Song namens Around And Around meinen, hier werde Tanzvergnügen besungen oder gar der kindliche Spaß, den man auf einem Karussell haben kann. The Happy Fits haben mit der gleichnamigen Single (****) aber die Monotonie der Corona-Zeit in den Blick genommen. Für Calvin Langman, der bei dem Trio das elektrische Cello spielt und singt, hat der Song „eine doppelte Bedeutung: Während der Pandemie fühlte es sich an, als würde sich die Welt nur um ihre Achse drehen und sonst passierte nichts. Aber es gab auch Monate oder Wochen, in denen es sich so anfühlte, als würde sich die Welt so schnell und heftig verändern, dass ich kaum mithalten konnte.“ Er hat auch ein paar ganz konkrete Beispiele dafür, von kleinen Ablenkungen bis hin zu historischen Krisen: „In der einen Woche buken Millennials noch Sauerteigbrot und in der nächsten waren wir auf der Straße und nahmen am größten Bürgerrechtsprotest der Geschichte für Black Lives Matter teil. In der einen Woche sahen wir uns die x-te Netflix-Serie an und in der nächsten mussten wir einen faschistischen Putsch verarbeiten.“ Around And Around, das viel Wut und Entschlossenheit offenbart, ebenso wie ein sehr geschicktes Spiel mit dem Repetitiven, ist ein weiterer Vorbote für das dritte Studioalbum der Band aus Brooklyn, das sich auch jenseits dieses Lieds immer wieder mit den Folgen von Covid-19 beschäftigt. „Mit diesem Album verarbeite ich das Trauma dieser Zeit – von der Pandemie über den Klimawandel, den Aufstieg des Faschismus bis hin zu Black Lives Matter und der Suche nach meinem Platz in dieser kaputten Welt“, sagt Langman. „Da es wohl kaum jemanden gibt, der von all dem nicht erschüttert ist, hoffe ich, dass jeder etwas Dunkles darin findet, mit dem er oder sie sich identifizieren kann.“ Am 22. Oktober sind The Happy Fits live im Berliner Prachtwerk zu sehen.

Melby aus Stockholm gehörten mit ihrem Debütalbum None Of This Makes Me Worry zur „Class of 2019“, die nach einem verheißungsvollen Karrierestart brutal ausgebremst wurde. Bei ihnen stand gerade eine geplante Deutschland-Tour auf dem Programm, als klar wurde, dass sie wegen Corona bis auf Weiteres das Land nicht mehr verlassen und sich auch nicht mehr wie bisher im Proberaum treffen konnten. Die Lösung von Matilda Wiezell, Are Engen Steinsholm, David Jehrlander und Teo Jernkvist lautete: Jedes Mitglied von Melby arbeitete für sich an neuem Material, die Ideen wurden dann digital ausgetauscht und weiterentwickelt. „Das Schreiben war eine Möglichkeit, etwas zu haben, das während der Pandemie eine Bedeutung hatte. Es war das Einzige, was sich überhaupt sinnvoll anfühlte, weil nichts anderes möglich war“, sagt Gitarrist Steinsholm. Als man, gemeinsam mit Toningenieur Alexander Eldefors, dann endlich wieder zusammen im Studio tüfteln durfte, zeigte diese neue Arbeitsweise auch noch ihre Nachwirkungen. „So wie wir früher Songs geschrieben haben, haben wir sie viel geprobt, bevor sie auf einer Platte landeten. Jetzt haben wir andersherum gearbeitet und sie einfach im Studio gebaut. Es war experimenteller“, sagt Sängerin und Gitarristin Matilda Wiezell. Einem Stück wie der ersten Single Hammers (***1/2) hört man diesen Mosaik-Charakter ein bisschen an, es zeigt aber auch, dass Melby die Chance genutzt haben, ihren Sound für das am 21. Oktober erscheinende zweite Album Looks Like A Map weiterzuentwickeln. „Wenn man die erste Platte macht, neigt man dazu, die Songs auszuwählen, die am leichtesten zugänglich sind, die für die Leute am einfachsten zu verstehen sind“, sagt Bassist David Jehrlander. „Ich glaube, das haben wir dieses Mal weniger getan, um mehr wagen und erkunden zu können.“ Die Sängerin hat auch noch einen sehr unmittelbaren Corona-Einfluss für Looks Like A Map zu benennen: „Das Buch Lonely City von Olivia Lang hat mich beeinflusst. Es handelt von verschiedenen Künstler*innen und ihrem Leben. Und ganz allgemein von der Einsamkeit, und wie sie sich auf die Menschen auswirkt. Gerade während der Pandemie war das Buch sehr eindringlich. Es war das zweite Jahr Corona, als ich es las, und ich war wirklich gelangweilt vom Alleinsein. Das Buch war ein großer Trost für mich.“ Vielleicht ist das ja ein guter Lektüretipp für alle anderen Pandemie-Opfer.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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