Ein paar Freunde kommen vorbei, man hat eine Kiste Bier gekauft, jemand bringt noch etwas mit, man fragt ein paar Stunden vor dem Termin noch einmal bei den Eingeladenen nach, bei denen noch nicht sicher ist, ob sie kommen oder absagen werden. Auf dem Tisch stehen wenig später Kerzen, Weinflaschen und rauchende Zigaretten im Aschenbecher, es gibt Small Talk und vielleicht ein Kartenspiel, das niemand richtig ernst nimmt. So normal, unspektakulär und vielleicht sogar langweilig das alles vor der Pandemie klang, so groß ist bei vielen Menschen die Sehnsucht nach solchen Gelegenheiten und die Wertschätzung für solch ein Zusammentreffen geworden. AnnenMayKantereit gehören definitiv zu dieser Art von Menschen. Es ist Abend (****) heißt der neue Vorabsong für das am 3. März 2023 erscheinende Album Es ist Abend und wir sitzen bei mir, und das Lied beschreibt mit einem sehr warmen und organischen Sound genau so eine vermeintlich alltägliche Situation. „Wir hatten wahnsinnig viel Lust darauf, dass Freunde zum Proberaum kommen und mit uns rumhängen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob wir zu viele sind oder ob der Selbsttest ausreicht“, schildert Henning May die Stimmung in der Kölner Band im Sommer 2022. Deshalb haben AnnenMayKantereit beschlossen, aus ihrem vierten Longplayer ein „Gastgeberalbum“ zu machen, wie sie das nennen. Sie haben also nicht ausschließlich gemeinsam als Band im Studio gearbeitet und auch nicht, wie so viele andere Acts in den vergangenen zweieinhalb Jahren, jeder für sich zuhause getüftelt, um die Ideen dann irgendwie per Internet-Austausch zusammenzufügen, sondern für die 15 neuen Lieder tatsächlich ein sehr familiäres Setting unter anderem mit den Produzenten Markus Ganter und Fabian Langer gewählt. Nach der eigenen Einschätzung der Band kommt das Trio so auch wieder der Unmittelbarkeit und Spontaneität sehr nahe, die es in seinen Anfängen mit Straßenmusik hatte. Im Frühjahr wird der Kreis der eingeladenen Freunde noch deutlich größer, dann gegen AnnenMayKantereit auf Tour.
Kaum Menschen und Autos auf den Straßen, weniger Flugzeuge am Himmel, dafür plötzlich wilde Tiere mitten in der Stadt. So erinnern sich Sam Coomes und Janet Weiss alias Quasi an den Lockdown zuhause in Portland. Insbesondere für Weiss, die früher bei Sleater-Kinney gespielt hat, kam dieser Zustand allerdings zunächst keineswegs ungelegen. Im August 2019 ist sie Opfer eines Unfalls geworden, als ein Auto in ihr Haus krachte und die Schlagzeugerin dabei zwei gebrochene Beine und ein gebrochenes Schlüsselbein davontrug. Sowohl dieser Schicksalsschlag als auch die Pandemie haben bei ihr die Gewissheit gestärkt: „Es gibt keine Investitionen in die Zukunft mehr. Die Zukunft ist jetzt. Wenn du etwas tun willst, dann tu es jetzt! Schiebe es nicht auf! All diese Dinge merkt man erst, wenn es schon fast zu spät ist. Alles könnte in einer Sekunde weg sein.“ Die Arbeit an Breaking The Balls Of History, das als zehntes Album von Quasi und als Nachfolger von Mole City (2013) am 10. Februar 2023 veröffentlicht wird, wurde für sie so etwas wie ein Reha-Programm. Denn weil das Duo keine Konzerte spielen konnte, aber so viel Zeit wie selten hatte, um gemeinsam kreativ zu sein, erschufen Coomes und Weiss sich eine fiktive Welt: Sie taten so, als wären sie auf Tournee und spielten jeden Nachmittag eine „Show“ in ihrem Proberaum. Natürlich gab es dabei kein Publikum, dafür entstanden aber schnell viele Ideen, die nun in zwölf neue Tracks eingeflossen sind. Aufgenommen wurde die Platte innnerhalb von fünf Tagen mit Unterstützung von Produzent John Goodmanson in den legendären Rob Lang Studios in Seattle. Einen Vorgeschmack gibt Queen Of Ears (****), das deutlich macht, wie groß bei Quasi weiterhin die Lust darauf ist, etwas schräg zu sein, und wie enorm weiterhin ihr Talent dazu ist, überaus eingängig zu klingen. Zu den Highlights des Songs zählen das sehr kraftvolle Piano à la The Blood Arm, die tollen Harmonien und die Idee, für den Clip in praktisch jede Kamera zu singen, die sie finden konnten. „Wenn man jünger ist und in einer Band spielt, macht man Platten, weil man das eben so macht“, sagt Sam Coomes. „Aber dieses Mal fühlte sich die ganze Sache auf eine ganz bewusste Art und Weise anders an, nämlich so einzigartig, wie es unter diesen seltsamen Umständen sein musste.“
Die seltsame Stimmung einer Stadt unter den Bedingungen von Social Distancing hat auch Annelotte de Graaf zuletzt sehr genau wahrgenommen. Die niederländische Singer-Songwriterin macht unter dem Namen Amber Arcades Musik und ist kurz vor dem Lockdown von Utrecht nach Amsterdam umgezogen. „Es war eine Abfolge von Extremen. Wir wohnten mitten im Zentrum, zuerst konnten wir nicht aus dem Haus gehen, ohne in eine riesige Menschenmenge zu geraten, dann fühlte es sich über Nacht wie eine apokalyptische Geisterstadt an“, sagt sie über ihre ersten Eindrücke im neuen Zuhause, die auch in die Single Just Like Me (***) eingeflossen sind. „Der Song handelt von der Spannung zwischen Zusammengehörigkeit und Alleinsein, die das Leben in einer städtischen Umgebung mit sich bringt. Das Bedürfnis nach beidem, aber oft auch die Unzufriedenheit mit beidem.“ So clever das Stück synthetische Instrumente und E-Gitarre vereint, wie man das schon von ihrem 2018er Debütalbum European Heartbreak kennt, so gekonnt wandert es auch zwischen verträumt und gewagt. Es ist ein erster Ausblick auf das Album Barefoot On Diamond Road, das am 10. Februar 2023 erscheinen, unter anderem Schlagzeug- und Perkussions-Arrangements von Matt Chamberlain enthalten wird und – auch wegen diverser Pandemie-bedingter Verzögerungen – häppchenweise entstanden ist. Annelotte de Graaf: „Diese Platte offenbart Teile von mir und meiner Beziehung zum Musikerdasein und zum Musikmachen. Es ist wie eine Abrechnung. Es geht um die Erkenntnis, wie wichtig es ist, Dinge aus den richtigen Gründen zu tun, und wie das deinen Prozess in einen verwandeln kann, der alles umarmt, was existiert, einschließlich dich selbst.“
Auch für Jemma Freeman steht nach dem gefeierten Debüt demnächst die Veröffentlichung des zweiten Albums an, das Miffed heißen wird. Die Zeit dazwischen war für das ehemalige Mitglied der Landshapes nicht einfach. „Wie jede Band waren wir vm Lockdown hart betroffen“, erklärt die Londonerin. „Ich war besonders am Boden zerstört, da mein soziales Netzwerk komplett darauf basierte, in Bands zu sein oder sie mir live anzusehen. Als jemand, der neurodivers ist (ich bin Autist und habe ADHS), fällt es mir schwer, ohne einen guten Grund mit abderen Menschen in Kontakt zu bleiben. Mein guter Grund ist normalerweise, dass ich in irgendeiner Band nützlich bin. Als das fehlte, wurde ich unglaublich isoliert, aber mir wurde auch klar, dass, wenn ich mich zu sehr auf das Fehlen der Musik konzentrierte, die Trauer zu groß werden könnte. Stattdessen habe ich mich abgeschottet, ich habe die Musik in meinem Kopf ausgeschaltet und ich habe mich damit abgefunden, dass wir möglicherweise nie wieder Live-Musik haben werden. Ich habe nicht aufgehört zu schreiben, aufzunehmen und zu Hause zu spielen, aber ich musste mich der Realität stellen, dass alles andere vorbei sein könnte.“ Wie frustrierend diese Erfahrung war, hört man der ersten Single Easy Peeler (****) gut an. Der Song ist rasant und chaotisch, er hat die Wut von Punk und eine wilde Entschlossenheit, Scheiße nicht einfach so hinzunehmen, so bekommen im Text unter anderem Impfgegner ihr Fett weg. Und weil die Aussicht auf Konzerte so vage war, hat Jemma Freeman die gesamte Platte mit ihrer Band The Cosmic Something eben live im Studio aufgenommen.
„Verrückt ist an dieser Frau nur eines: dass sie noch kein Superstar ist“, hat der Stern im vergangenen Jahr über Dodie geschrieben. Das war nach dem gefeierten Debütalbum Build A Problem (Platz 3 im UK), nun legt die 27-Jährige mit der EP Hot Mess nach. „Hot Mess ist genau das, was der Titel besagt: ein dampfender, widersprüchlicher Haufen roher Ideen und Gefühle; schwere Geständnisse, manische Phasen gepaart mit scheinbar stabilen Momenten der Erkenntnis und Akzeptanz, gemalt mit Flackern von dissoziierten Spiralen. Ich bin verloren! Ich bin verwirrt, aber ich bemühe mich, und ich akzeptiere mich und hasse mich gleichzeitig, während ich das tue“, sagt Dodie. Der neuste Track Lonely Bones (****) wird darauf enthalten sein und überrascht mit seinem Walzertakt ebenso wie mit der zarten, reflektierten Grundstimmung und dem sehr seelenvollen Harmoniegesang. „Im Lockdown 2020 verbrachte ich viel Zeit allein, beschäftigte mich mit Dissoziation, Depression und machte wütende Versprechungen, um sicherzustellen, dass das Leben bald anders sein würde. Ich fühlte mich wie eine Wilde! Manisch, völlig aufgedreht. Ich liebte die Idee, einen Gang-Gesangsteil zu schreiben, der so klingt, als sollte er irgendwann unter Freunden und bei Drinks und guten Vibes gesungen werden – aber aus einer viel einsameren Vergangenheit heraus geschrieben.“ Das ist wunderbar gelungen und erstaunlich nah an dem gedanklichen Ansatz, den auch AnnenMayKantereit verfolgen.