Enter Shikari (Pls) Set Me On Fire Review

Corona-Musik 35 mit Enter Shikari, Fucked Up, Gregor McEwan, Kali Malone und Adieu

Enter Shikari (Pls) Set Me On Fire Review
Enter Shikari suchen die Nähe zueinander – und zu ihren Fans. Foto: Check Your Head / Jamie Waters

Als im April 2020 das letzte Album von Enter Shikari erschien, waren die Effekte der Covid-19-Pandemie schon nicht mehr zu übersehen. Einen Monat zuvor hatten in Deutschland die letzten Fußballspiele vor Publikum stattgefunden und im UK waren die ersten Lockdown-Maßnahmen gesetzlich in Kraft getreten. Dass die Musikwelt allerdings mehr oder weniger zwei Jahre der Passivität bevorstehen würden, war kaum jemandem klar, auch nicht dem Quartett aus St. Albans. Für die Band war das doppelt schlimm. Erstens war die Platte auf Platz 2 der UK-Charts eingestiegen, die bisher höchste Platzierung in der Geschichte der 1999 gegründeten Band. Diesen Erfolg hätten Frontmann Rou Reynolds und seine Mitstreiter natürlich gerne auch mit einer entsprechenden Tour gefeiert und befeuert, doch an Liveshows war bis auf Weiteres nicht zu denken. Zweitens wurde ihnen erst nach und nach klar, wie sehr ihnen Konzerterlebnisse und der damit verbundene Austausch mit Fans fehlen sollte. „Zu dieser Zeit fühlte es sich an, als würden wir selbst als Musiker den Tod unserer Band erleben“, sagt Reynolds heute. Dass es nicht so kam, ist nicht nur dem Ende der Pandemie-Schutzmaßnahmen zu verdanken, sondern bezeichnenderweise auch einem dadurch wieder möglich gewordenen Festival-Erlebnis. Am 19. Juni 2021 spielten Enter Shikari vor 10.000 Fans als Headliner beim Download, und diese Erfahrung hauchte der Band neues Leben ein, was sich umgehend auch in der Entstehung neuen Materials äußerte, das nun auf dem siebten Album A Kiss For The Whole World versammelt sein wird, das für 21. April angekündigt ist und im Frühjahr 2022 in einem alten Bauernhaus in der südenglischen Küstenstadt Chichester aufgenommen wurde. „Mir war gar nicht klar, dass die menschliche und physische Nähe und Verbindung zu anderen Menschen so zentral für mein Schreiben ist“, sagt Reynolds heute zur Veröffentlichung der Vorab-Single (Pls) Set Me On Fire (****). Der Song vereint Wucht und Chaos auf perfekte Weise, im Video wissen Enter Shikari gar nicht wohin mit ihrer Energie und machen wieder einmal deutlich: Nichts ist schlimmer als Stillstand, Langeweile, Tatenlosigkeit. „Ehrlich gesagt, dachte ich, ich wäre am Ende. Ich habe mich noch nie so losgelöst von meiner Bestimmung gefühlt. Ich habe fast zwei Jahre lang keine Musik geschrieben. Die längste Pause davor waren zwei Wochen. Ich war gebrochen“, blickt der Sänger und Keyboarder auf die Covid-Zwangspause zurück. „Es ist fast so, als hätte mein Gehirn gefragt: ‚Was ist der Sinn von Musik, wenn man sie nicht mit anderen teilen kann? Welchen Sinn hat es, Musik zu schreiben, wenn man sie nicht mit anderen erleben kann?‘ (Pls) Set Me On Fire ist aus dieser Verzweiflung heraus entstanden. Dieser Song ist ein Eruption positiver Energie. Jede Emotion, die zwei Jahre lang in mir gefangen war, wurde endlich freigesetzt.“

Neue kreative Energie hat Corona auch bei Fucked Up freigesetzt, genauer gesagt bei Sänger Damian Abraham. Für das in zwei Wochen erscheinende Album One Day hat er zum ersten Mal seit Glass Boys (2014) wieder Texte für die Band beigesteuert. „Es fühlte sich fast so an, als wäre es das letzte Mal, dass ich Gesang für irgendetwas aufnehmen würde“, sagt er über die Sessions während der Pandemie, deren Auswirkungen sich da auch in Kanada schon in täglich steigenden Todeszahlen bemerkbar machten: „Was will ich den Freunden sagen, die nicht mehr unter uns sind? Was möchte ich mir selbst sagen?“ Zwei weitere Hindernisse brachte Covid-19 für Fucked Up mit sich. Erstens wurde der Nachfolger von Dose Your Dreams (2018) nach dem ursprünglichen Start der Arbeiten um zwei Jahre verschoben. Zweitens mussten die Bandmitglieder jeder für sich arbeiten bei der Umsetzung eines ganz besonderen Konzepts: Gitarrist und Komponist Mike Haliechuk hat alle zehn Songs innerhalb eines Tages geschrieben (daher auch der Albumtitel One Day) und seine Kollegen aufgefordert, ihre Parts ebenfalls innerhalb eines Tages einzuspielen – und zwar ohne dass sie sich das Material vorher angehört hatten. So sollte auch inmitten des Lockdowns ein Geist von möglich großer Spontaneität erreicht werden. Die zweite Single Found (***1/2) macht das wunderbar deutlich. Sie klingt mit ihrem Lärm- und Energie-Level und ein paar keltischen Einflüssen in der Gesangs- und Gitarrenmelodie, als hätten sich die Dropkick Murphys in einen Bulldozer verwandelt und handelt von der (gewaltsamen oder gewaltlosen) Eroberung von Territorien, von dem unvermeidlichen Zusammenspiel von Besiedlung und Verdrängung. Haliechuk sagt dazu: „Ich haben einmal in der Davenport Road gewohnt, einer der ältesten Straßen Nordamerikas, die seit Tausenden von Jahren ein Weg der Ureinwohner ist und am Nordufer des Irokesen-Sees entlangführt, der nach der letzten Eiszeit zurückging. Gleich im Osten lag der Taddle Creek, der im 19. Jahrhundert unterirdisch verlegt wurde, um die Straßen zu bauen, auf denen ich laufe. Ich habe viel über Gentrifizierung nachgedacht und beobachtet, wie kleine Läden von großen Gebäuden geschluckt wurden, bis mir klar wurde, dass ich eines dieser großen Gebäude bin.“

Auf sehr spezielle Weise hat Kali Malone die Monate der Pandemie genutzt, um ihrerseits Gebäude zu erobern: Die in Stockholm lebende Amerikanerin wollte die unverhofft gewonnene Zeit verwenden, um ihre Kenntnisse in Harmonielehre und nichtlinearer Komposition zu erweitern und auch gleich anzuwenden. Zwischen März und Mai 2020 hielt sie sich in Berlin auf und hatte dort nicht nur die nötige Muse, um über neue kompositorische Methoden nachzudenken, sondern konnte auch in leeren Konzertsälen experimentieren, die während des Lockdowns nicht genutzt wurden. Unter anderem im Berliner Funkhaus tat sie sich mit Stephen O’Malley (E-Gitarre) und Lucy Railton (Cello) zusammen, um gezielt für deren Instrumente und Spielweise das immersive Stück Does Spring Hide Its Joy (***) zu schreiben, zu dem sie selbst die Parts an den Sine-Wave-Oscillators beisteuerte. „Wie die meisten Menschen auf der Welt hat sich auch meine Zeitwahrnehmung während der pandemischen Enge des Frühjahrs 2020 erheblich verändert. Ohne die vertrauten Meilensteine des Lebens vergingen die Tage und Monate wie im Flug, ohne dass ein Ende in Sicht war. Die Zeit stand still, bis subtile Veränderungen in der Umgebung darauf hindeuteten, dass sie vergangen war. Erinnerungen verwischten, das Gewebe der Realität löste sich auf, unvorhergesehene Verwandtschaften entstanden und verschwanden, und die ganze Zeit über veränderten sich die Jahreszeiten und zogen weiter, ohne dass wir die Menschen verloren“, sagt Kali Malone, die dieses Gefühl des irritierten und fast unmerklichen Wechselspiels aus Stillstand und Bewegung in Does Spring Hide Its Joy unter anderem mit pulsierenden Interferenzmustern reflektiert. Die sehr reduzierten Klänge, bei denen man oft gar nicht bemerkt, wann ein Teil beginnt und der andere endet, wann ein Instrument die Töne des anderen überlagert und schließlich ablöst, erfordert viel Konzentration, der Effekt ist gleichermaßen kontemplativ (durch den Minimalismus und den Einsatz einiger Leitmotive in der Harmonie, die nach und nach vertraut werden) und beunruhigend (durch das Wissen, dass sich trotzdem ständig etwas in dieser Musik verändert). Von dem Stück, das von einem Werk der Videokünstlerin Nika Milano begleitet wird, gibt es eine Live-Fassung mit 60 und eine mit 90 Minuten, auf Tonträger erscheint es als Dreifach-LP-Set mit einer Spielzeit von etwa zwei Stunden sowie als dreistündige Dreifach-CD. „Diese Musik stundenlang zu spielen, war eine tiefgründige Art, die zahllosen Lebensübergänge zu verarbeiten und die Zeit zusammenzuhalten“, sagt Kali Malone.

Das war blödes Timing: Jan Beyer (Gitarre), Falko Harriehausen (Bass), Tillmann Bross (Gitarre und Gesang) und Thomas Gieferl (Schlagzeug) gründeten Adieu im Jahr 2019, nachdem sie alle zuvor bereits in anderen Bands und Projekten aktiv gewesen waren. Kaum hatten sie sich gefunden und sich für den Take-Off ihrer Band vorbereitet, da wurden sie von Corona ausgebremst, was besonders kompliziert wurde, weil die Mitglieder zwischen Hamburg, Hannover und Wien verstreut sind. Erst Ende 2021 erfolgte so etwas wie ein Re-Start, der demnächst in der ersten EP mit fünf Liedern münden soll, für die Adieu beispielsweise Fjort und Heisskalt als Bezugspunkte nennen. Die erste Kostprobe ist Kompetenz (***), das vielen Emo-Freund*innen gefallen dürfte mit seinem heavy Fundament, einer aufgewühlten Atmosphäre, zu der auch der Quasi-Sprechgesang in der Strophe beiträgt, dem nichts weniger als hymnischen Refrain und der, wahrscheinlich auch während der Covid-Pause gültigen Erkenntnis von Sänger Tillmann Bross: „Scheitern ist der Kern meiner Kompetenz.“

„I have a vision / of love, not suspicion / maybe we all get along“, singt Gregor McEwan in seiner neuen Single The End (****), und so naiv dieser Wunsch klingt, so wichtig ist er in diesen Zeiten. „Ich habe The End während der Pandemie und insbesondere mit Blick auf die Klimakrise und politische Entscheidungsträger geschrieben und hätte weder gedacht noch gewollt, dass Letzteres durch Putin und seinen Überfallkrieg auf die Ukraine so aktuell werden würde“, erzählt der Singer-Songwriter, der das Lied völlig zu Recht als seine bisher beste textliche Arbeit bezeichnet. Das Stück stellt die Frage, ob wir überhaupt in der Lage sind, uns vernünftig zu verhalten und (politisch wie persönlich) Entscheidungen zu treffen, die im Sinne des Gemeinwohls und des Planeten sind. Erstaunlich ist dabei nicht nur, wie viele globale Problemfelder Gregor McEwan in diese 150 Sekunden zu packen vermag, sondern auch, wie er nur mit einer akustischen Gitarre für eine spannende Dramaturgie sorgt, die mit tollem Gitarrenpicking und einer besonders zerbrechlichen Stimme beginnt, bei der man am Ende aber auch merkt, dass da ordentlich Wut im Bauch ist auf Corona-Leugner und etliche Deppen anderer Art.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

Alle Beiträge ansehen von Michael Kraft →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.