Heather Woods Broderick Crashing Against The Sun

Corona-Musik 36 mit Alex Lahey, Heather Woods Broderick, Niklas Paschburg, Saeko Killy und Lael Neale

Heather Woods Broderick Crashing Against The Sun
Mehr Autonomie in der Pandemie gewann Heather Woods Broderick. Foto: Cargo Records / Jeremy Johnstone

Montag in Bristol, Dienstag in Glasgow, Donnerstag in Manchester, tags darauf in Leeds. Anfang November in Philadelphia, Mitte des Monats in Denver, am Ende in Kanada. So sah lange Zeit der Alltag von Heather Woods Broderick aus. Denn die Singer-Songwriterin aus Maine, die in Los Angeles lebt, ist nicht nur mit ihrer eigenen Musik viel live unterwegs, sondern unterstützt als Tourmusikerin auch regelmäßig Acts wie Damien Jurado, Sharon van Etten, Efterklang oder zuletzt Beth Orton. Anfang 2020 wurde diese Routine durchbrochen, denn Konzerte waren nicht mehr möglich. Broderick sah sich zum ersten Mal mit der Situation konfrontiert, zuhause festzusitzen und auch noch den Kontakt zu anderen Künstler*innen stark einschränken zu müssen. Sie nutzte die Gelegenheit, um mit der Arbeit an ihrem vierten Studioalbum zu beginnen, das musikalische Gerüst dabei auf das Nötigste zu reduzieren und den größten Teil der Platte, die Labyrinth heißen wird und am 7. April erscheint, im Alleingang zu erschaffen. „Viele von uns sehnen sich nach Stille und Frieden, um der Bewegung um uns herum zu entkommen. Doch die Bewegung ist unaufhörlich und findet ständig auf irgendeiner Ebene statt. Sie ist so wild wie der Wind und doch ewig vorhersehbar in ihrer Unausweichlichkeit. Sie ist zum Teil linear, aber in ihrem Kreislauf unendlich. Unser Leben unterstreicht sie nur“, sagt sie zu den Themen der Platte. Mit der Auskopplung Crashing Against The Sun (***1/2) gibt sie einen Vorgeschmack. „In Crashing Against The Sun geht es darum, sich mit den Realitäten von heute zu arrangieren und sich mit Geistesgegenwart durch die Gegenwart zu bewegen und all die Möglichkeiten zu erkennen, die die Zukunft bereithält. Es geht um das, woran wir uns in unserer Welt als Rückversicherung oder Bestätigung klammern, und wie flüchtig diese Dinge oft sind“, sagt sie dazu. Das Fundament aus filigranen Synthies, einem subtilen Beat und dem sphärischen Gesang von Heather Woods Broderick zeigt bereits diese Zerbrechlichkeit, dazu kommen spannende Kontrapunkte durch Klavier und eine sich zwischendurch aufbäumende E-Gitarre sowie insgesamt ein tolles Gespür für dramaturgische und atmosphärische Feinheiten. „Der Song veranschaulicht die Neugierde darauf, wie dieselben Gefühle auch eine doppelte Existenz haben und positiv sein können. Die Feinheiten der Existenz sind voller Schwankungen. Unsere Erfahrungen können sich oft redundant anfühlen, aber die Einzigartigkeit liegt in den Details. Im Grunde vergeht die Zeit wie im Flug. Genieße die Fahrt!“

Auch Niklas Paschburg stellte der Lockdown vor beträchtliche kreative Probleme. Für seine ersten beiden Alben hatte er sich jeweils vor Ort von Landschaften und Naturphänomenen inspirieren lassen, nämlich dem Wandel der Ostsee (Oceanic, 2018) und der Dunkelheit im nordeuropäischen Winter (Svalbard, 2020). Für sein drittes Album war das nicht möglich, also entschloss sich der in Hamburg geborene und in Berlin lebende Künstler stattdessen zu einer Reise in sein Inneres. „Es ist eine Introspektion, die sich in Musik ausdrückt und am Ende zwei verschiedene Gesichter zeigt: auf der einen Seite die warmen und positiven Gefühle, auf der anderen die dunkleren“, sagt Paschburg über das neue Werk Panta Rhei, das für 17. März angekündigt ist. Den ersten Einblick gibt die Single Dark Side Of The Hill (***), für die er sich die Hamburger Künstlerin lùisa als Unterstützung hinzugeholt hat. „Als ich das Demo auf dem Klavier geschrieben habe, hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass dieser Song eine weitere Stimme neben dem Klavier verlangt. Während des Schreibprozesses habe ich Luisas Musik entdeckt und als sie mir die erste Skizze vorspielte, hat es mich direkt umgehauen. Es fühlte sich so an, als würden wir die gleiche musikalische Sprache sprechen, ohne auch nur ein Wort über die Richtung zu verlieren. Die Arbeit mit ihr war so intuitiv und ich bin froh, dass aus dieser Zusammenarbeit nicht nur ein neuer Song entstanden ist, sondern auch eine sehr gute Freundschaft.” Das Stück greift die Themen der vorherigen Alben ebenfalls auf, nämlich Bewegung und Bedrohung, im Refrain entwickelt es eine beträchtliche Eleganz und durch den mehrstimmigen Gesang fast so etwas wie Majestät. Die Sängerin, Komponistin und Produzentin lùisa gibt die Komplimente zurück: „Es war toll, mit Niklas zu arbeiten – seine Instrumentalkomposition von Dark Side Of The Hill war von Anfang an wunderschön und ich hab mich sehr gefreut, dass er mich gebeten hat, einen Text dafür zu schreiben und darauf zu singen. In den Lyrics geht es darum, dass man jemanden verlässt, weil man ihn beschützen will – weil man seine eigene dunkle Seite kennt.“

Für Saeko Okuchi alias Saeko Killy war es hingegen eine Reise während der Covid-19-Monate, die den Anstoß für ihr Debütalbum Morphing Polaroids gab. Die gebürtige Japanerin lebt seit 2018 in Berlin und war davor auch schon in São Paulo zuhause. Überall war sie musikalisch aktiv, in der deutschen Hauptstadt zuletzt vor allem als DJ und Live-Künstlerin in der Szene rund um den Sameheads-Club in Neukölln. Daraus ist 2021 auch ihre EP Dancing Pikapika hervorgegangen. Doch mit Corona fiel Saeko Killy in ein kreatives Loch. Der Ausweg war ein Trip nach Belgien auf Einladung des DJs und Produzenten soFa elsewhere. Für ihn hatte sie 2022 bereits auf dem Track The Dream gesungen und die Zusammenarbeit gefiel beiden offensichtlich so gut, dass er die Sängerin später erneut in sein Heimstudio nach Brüssel einlud. In einer einzigen Jamsession entstand dabei das gesamte Material für die elf Stücke des Albums. „Der ganze Prozess begann während der Pandemie – ich war zu Hause sehr deprimiert und soFA holte mich aus Berlin nach Brüssel. Ich kann also durch die Songs sehen, dass es auch ein Prozess war, mein eigenes Feuer wiederzufinden. Das Feuer schien erloschen zu sein, aber eigentlich brannte es immer noch still vor sich hin; es sah anders aus und veränderte sich, aber es war immer noch da und kam immer wieder zurück“, sagt die Künstlerin. Explizit thematisiert sie diese Wiedergeburt auch im Text von Sun Shower (***). Der Track zeigt, wie wirkungsvoll der größtenteils improvisierte Sprechgesang in der Kombination mit einem Bass als strukturierendem Element und ineinander verwobenen Synthieflächen sein kann. Das klingt ein bisschen, als hätten Depeche Mode den Dub für sich entdeckt – und Japanisch gelernt.

Von dieser Sorte dürfte es demnächst wahrscheinlich noch etliche Corona-Lieder geben: Künstler*innen besingen nicht mehr den Lockdown-Blues, sondern das befreiende Gefühl nach dem Ende der Einschränkungen. So ist es bei Good Time (****), der neuen Single von Alex Lahey, mit der die Australierin zugleich einen Ausblick auf ihr Album The Answer Is Always Yes gibt. „Dieser Song wurde von einem Abend inspiriert, den ich mit einem Freund im Pub verbracht habe, kurz nachdem Melbourne vom langen Lockdown befreit worden war. Wir beobachteten, wie all die Fremden um uns herum diese ‚Was kostet die Welt‘-Einstellung hatten, um das Beste aus der Nacht zu machen (aka sich zu besaufen). Es war ein ziemlicher Schock, nachdem wir so lange eingesperrt waren, aber auch irgendwie belebend.“ Sie vereint darin auf wunderbare Weise ein bisschen von der Slacker-Rotzigkeit von Courtney Barnett mit einem großen, strahlenden Refrain, der zu Florence & The Machine passen würde. Corona machte sich für Alex Lahey auch darin bemerkbar, dass sie für ihr drittes Album keinen festen Abgabetermin hatte, weil ohnehin auch keine die Veröffentlichung begleitende Tour geplant werden konnte. So ließ sie sich, nachdem sie wieder ins Haus ihrer Eltern gezogen war, mehr Zeit für das Komponieren und lud zudem erstmals auch Co-Autor*innen ein. Im Falle von Good Time war das Jacknife Lee. „Ich habe zwei Platten ganz alleine gemacht und mir damit bewiesen, dass ich es kann. Aber ich war auch an einem Punkt, an dem ich dachte: ‚Wenn ich das noch einmal mache, weiß ich irgendwie, wie es klingen wird‘, und ich glaube nicht, dass ich im Moment daran interessiert bin'“, sagt Lahey.

Auch Lael Neale entschied sich während der Pandemie-Monate für den Weg zurück zu Mama und Papa. Im April 2020 zog sie weg aus Los Angeles auf deren Farm in Virginia und nutzte das ungestörte Landleben fürs Schreiben neuer Lieder, die nun im neuen Album Star Eaters Delight gemündet sind, das am 21. April 2023 erscheinen wird und von Guy Blakeslee produziert wurde. „Als ich zurück auf die Farm zog, stellte ich fest, dass die ununterbrochene Stille mich dazu zwang, sie mit Klang zu durchbrechen. Dieses Album ist mehr nach außen gerichtet. Es ist ein Zurückgreifen auf die Welt, ein Sich-Verbunden-Fühlen, ein Aufwachen, ein Wieder-Zusammenkommen“, sagt sie. Den Album-Opener I Am The River (****) gibt es als erste Kostprobe, die wichtigsten Zutaten dabei sind reichlich Velvet-Underground-Vibes, viel Coolnes, das Omnichord als wichtiges Instrument (wie schon auf dem Vorgänger Acquainted With Night) und ein „Badadadadadam“-Refrain, der so schön ist, dass man die Pandemie und ihre Nachwehen beinahe vergessen könnte.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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