Vieles, was für gute Musik essentiell ist, fehlte während der Pandemie-Monate. Vielleicht an erster Stelle dabei zu nennen: Begegnungen. Eine solche hatten HÆCTOR aus Hamburg, als sie im September 2022 nach vielen Monaten ohne Konzerte auf dem Reeperbahn Festival gespielt haben. Sie trafen dort auf Henrik Menzel, der sich als Produzent unter anderem für Udo Lindenberg, Sasha und Till Brönner einen Namen gemacht hat. Gemeinsam entwickelten sie die Idee, ein Lied neu zu interpretieren, das Bassistin Lena Schöllermann, Sänger Martin Wendt, Gitarrist Christopher Kellner sowie Keyboarder und Drummer Christoph Rosemeier während des Lockdowns geschrieben hatten und das zum bisher erfolgreichsten Song von HÆCTOR geworden ist. Schließlich handelt Run Dry, im Juni 2021 als Single veröffentlicht und ein Jahr später auch auf dem Debütalbum Modern Urban Angst enthalten, von genau dieser Problematik: außen vor sein, sich allein fühlen und den Wunsch haben, daraus durch Begegnungen mit den Lieblingsmenschen wieder ausbrechen zu können. So machten sie sich an einen 23 Pop Edit von Run Dry (***), der – passend zu Ende der meisten Covid-Einschränkungen – im Vergleich zum Original betont heiter und schwungvoll ist. Statt Niedergeschlagenheit der Einsamkeit überwiegt nun die Aussicht auf bessere Zeiten, das neue Video unterstreicht diese Atmosphäre sehr schön. Als Blaupause für den neuen Sound des 2017 gegründeten Quartetts (Selbstbeschreibung: „monumental elektrisierender Indie-Pop gepaart mit Euphorie und Melancholie“) muss das vielleicht nicht unbedingt betrachtet werden, neue musikalische Lebenszeichen von HÆCTOR sind aber auf jeden Fall bald zu erwarten. Die Zeit der Pandemie haben sie nämlich auch genutzt, um ein neues Studio einzurichten und in Betrieb zu nehmen, und dort reichlich neue Songs zu schreiben.
Auch Orbital hatten während der Corona-Monate eine wichtige Begegnung, ebenfalls beinahe vor der Haustür. Genauer gesagt: direkt in dem Gebäude in Brighton, in dem die Brüder Paul und Phil Hartnoll ihr Studio haben. Denn die Etage darüber wird von der Band Penelope Isles genutzt, und deren Sängerin Lily Wolter wirkt nun auf der neue Orbital-Single Are You Alive? (***1/2) mit. Das legendäre Duo setzt damit die Reihe von Songtiteln mit sehr grundsätzlichen Fragen nach Are We Here? (1994) und Where Is It Going? (2012) fort. Der Track hat einen sehr direkten Corona-Bezug. Denn die Basis dafür schuf Paul Hartnoll im Projekt „The Virus Diaries“, das er mit dem Dichter Murray Lachlan-Young für BBC Radio 6 umsetzte. Die beiden einstigen Schulfreunde mussten für die Sendung jeden Mittwoch ein neues Stück abliefern, eins davon war Garden Centre. Paul Hartnoll hatte die Idee, es mit Gesang anzureichern, so entstand der Beitrag von Lily Wolter, die auch den Text geschrieben hat. „Lily kam mit ein paar tollen Hooks, wir verbrachten einen Tag damit, den Song neu zu arrangieren und Hey Presto! Are You Alive war geboren“, erzählt er über das Stück, das gleichzeitig zugänglich und geheimnisvoll klingt und einen spannenden Kontrast zwischen der eher sphärischen Strophe und dem erstaunlich kraftvollen Refrain entwickelt. Are You Alive? wird auch auf dem neuen Album Optical Delusion enthalten sein, das ebenfalls teilweise während des Lockdowns entstand.
Im Falle von Wild Child führte eine Begegnung während der Pandemie-Monate sogar dazu, dass die Band aus Austin nun ein neues Mitglied hat. Das kam so: Weil noch keine großen Shows möglich waren, spielten die beiden Kern-Songwriter*innen der Band – Kelsey Wilson (sie macht auch bei Glorietta mit und hat ihr Soloprojekt Sir Woman) und Alexander Beggins (sein Soloprojekt heißt Coco Zani) – zunächst ein paar Akustik-Konzerte. Dort wurden sie von John Calvin Abney unterstützt. Die Zusammenarbeit klappte so gut, dass er für das neue Album End Of The World (erscheint am 31. März) als regulärer Teil der Band aufgenommen wurde. Der fünfte Longplayer der seit 2010 aktiven Texaner verweist nicht nur im Titel auf die Erfahrungen der Covid-Zeit. Viele der Songs drehen sich um die Frage, wie sich in der Post-Pandemie-Ära ein konstruktives Miteinander gestalten lässt. Die Reaktivierung von Wild Child hatte dabei auch finanzielle Gründe, wie die Musiker*innen recht offen zugeben. Denn anders als bei ihren Nebenprojekten gab es hier eine gewachsene Fan-Base, und mit virtuellen Shows für dieses treue Publikum bot sich zumindest eine kleine Einnahmequelle. Daraus wurden dann Songwriting-Sessions und schließlich neuer Schwung für die Band. „Inmitten des Chaos wurde End Of The World als eine Reflexion oder ein Mittel konzipiert, um zu versuchen, all den beunruhigenden Ereignissen, die sich vor unseren Augen in Echtzeit und rund um die Welt abspielen, einen Sinn zu geben“, sagt Alexander Beggins. Als erste Single erscheint der Titelsong (***1/2), der den tödlichen Eissturm in Texas im Jahr 2021 thematisiert – und so cool und kraftvoll klingt, dass er sicher noch ein paar mehr Pandemien und Naturkatastrophen überleben wird.
Man sollte meinen, dass eine musikalische Kollaboration mit dem eigenen Vater nicht allzu schwierig zu bewerkstelligen sein sollte. Doch beim kalifornischen Singer-Songwriter Nic Russo alias Dick Stusso brauchte es erst eine Pandemie, damit das klappte. Sein Vater ist Saxofonist Marc Russo, der lange bei den Doobie Brothers gespielt und auch schon einen Grammy gewonnen hat. Er hat jetzt die Bläserarrangements für den Song Garbagedump #1 (***1/2) geschrieben, enthalten auf dem für 24. März angekündigten Album S. P. „Während der Pandemie hatte er etwas mehr Müßiggang zu Hause. Wir hatten schon eine Weile über eine Zusammenarbeit mit Bläsern gesprochen. Diesmal hatte er die Zeit, und er ist so weit weg von meinem Kaliber als Musiker, also ist es ein Glücksfall, dass es passieren konnte. Er hat den Song zu etwas ganz Besonderem gemacht“, sagt Dick Stusso. Teilweise sind die Songs auf seinem dritten Album nach Nashville Dreams / Sings The Blues (2015) und In Heaven (2018) allerdings schon vor der Pandemie geschrieben und aufgenommen worden. Dann unterbrach Stusso die Arbeit an der Platte, um noch einmal neue Inspiration zu tanken. „Ich habe mir bewusst Zeit genommen, damit diese Lieder so seltsam wie nur möglich werden können“, sagt er zum Ausblick auf die 18 neuen Songs. Bei Garbagedump #1 hat das schon einmal geklappt: Das Stück ist ziemlich schräger Soul und klingt, als sei eine ganze Kneipe seekrank geworden.
Auch ein neues Corona-Phänomen in der Musikwelt: Bei vielen Bands wurde der Karrierestart durch die Pandemie ausgebremst, weil die Möglichkeit fehlte, nach ersten zarten Erfolgen und der frisch geweckten Nachfrage beispielsweise mit einer Tour oder Festival-Shows nachlegen zu können. RVG aus Melbourne hingegen fanden die Zwangspause wohltuend, um den Trubel abzukühlen, der 2020 nach ihrem zweiten Album Feral entstanden war (der australische Rolling Stone lobte die Platte beispielsweise als „the record of a lifetime“). „Hype ist beängstigend. Nach zwei Jahren Covid fühlte es sich so an, als wäre der Hype abgeklungen, so dass wir einfach machen konnten, was wir wollten. Diesmal haben wir uns gesagt: Das ist es, was wir tun, wir übernehmen die Kontrolle, wir gehen Risiken ein, und wir werden ein Album machen, das so groß klingt, dass wir es wieder hören wollen, wenn wir es im Radio hören. Wenn wir nur noch ein weiteres Album machen könnten, dann wäre es dieses“, sagt Frontfrau Romy Vager über Brain Worms, das in London aufgenommen wurde und am 2. Juni erscheinen wird. Die erste Single Nothing Really Changes (****1/2) lässt allerdings befürchten, dass sie sich gemeinsam mit ihren Bandkolleg*innen Reuben Bloxham (Gitarre), Marc Nolte (Schlagzeug) und Isabele Wallace (Bass) bald wieder begeisterten Jubelstürmen ausgesetzt sehen wird: Der Song ist spannend und sogar bedrohlich, hat etwas Eighties-Spirit (etwa Pat Benatar würde als Referenz passen) und viel Coolness, jedes Wort ist packend und wird mit einem perfekten Mix aus Inszenierung und Authentizität gesungen. Das Stück begann „als Songwriting-Experiment, um etwas Eingängiges mit einem unangenehmen Riff zu schreiben, eine Kreuzung aus den Divinyls und Smoke On The Water. Es ist ein Song darüber, jemanden zu vermissen, aber sich selbst davor zu schützen, verletzt zu werden“, sagt Vager.