Schon seit vielen Jahrzehnten trägt Nashville den Spitznamen „Music City, USA.“ Der Ehrentitel ist wohl verdient: In der Region gibt es knapp 200 Tonstudios und 80 Plattenfirmen. Rund 3000 Profimusiker sind in Nashville zuhause. Den unzähligen Platten, die hier entstehen, sollte auch das neunte Studioalbum von Tinariwen hinzugefügt werden. Doch Corona machte der legendären Band aus Mali gleich mehrfach einen Strich durch die Rechnung. Letztlich wurden die Songs auf Amatssou (erscheint am 19. Mai) dann in Djanet, einer Oase in der Wüste Südalgeriens, in Paris und Los Angeles eingespielt. Lediglich die Gastmusiker Wes Corbett und Fats Kaplin nahmen ihre Tracks tatsächlich in „Music City, USA“ auf. Sie sind treue Wegbegleiter von Jack White, der in Nashville ein Studio betreibt und als langjähriger Fan von Tinariwen die Band 2021 dorthin einlud. Als Produzenten hatte man Daniel Lanois eingeplant. Wegen der Covid-Reisebeschränkungen konnten Tinariwen aber nicht in die USA einreisen. Auch der Versuch, Lanois nach Afrika zu holen, scheiterte an der Pandemie. Also baute sich die Band ein mobiles Studio in einem Zelt in Djanet auf, die anderen Beteiligten arbeiteten aus der Ferne, wie auch Lanois, der aus seinem Studio in Los Angeles seine Beiträge beisteuerte. Die erste Single Tenere Den (****) beweist, wie gut der oft als „Wüstenblues“ betitelte Sound der Tuareg-Musiker mit der Country-Prägung von Lanois, der mit Bob Dylan, Emmylou Harris und Willie Nelson gearbeitet hat, und den weiteren US-Mitstreitern harmoniert. Nach dem schwebenden Beginn rückt eine quicklebendige Gitarrenfigur ins Zentrum, der enorm weise und warm klingende Gesang verweist dann vollends auf die Grundidee einer großen Gemeinschaft aus Stimmen und Instrumenten. Dadurch wird zugleich auch klar, wieso die Band den Albumtitel Amatssou (übersetzt: „jenseits der Angst“) gewählt hat: In all den Krisen und Kämpfen, die ihr Volk durchzustehen hatte, kann eine Pandemie kaum noch schocken – und Musik ist ohnehin ein ideales Mittel, um Zuversicht und Zusammenhalt zu vermitteln. Das Lied feiert die Erfolge der Tuareg-Revolution in der malischen Region Kel Adagh, das Animationsvideo dazu ist unter Regie von Alexis Jamet entstanden.
Die Geschichte einer lang ersehnten Zusammenarbeit können auch Pearl & The Oysters erzählen. Bei ihnen machte Covid den Plänen aber nur fast einen Strich durch die Rechnung. Im Gegenteil: Den Track Read The Room (***1/2) empfanden sie als Befreiung aus dem Lockdown-Blues. Den Gesang teilen sich Juliette Pearl Davis und Joachim Polack dabei mit Laetitia Sadier von Stereolab, einer der absoluten Lieblingsmusikerinnen des Duos. „Wir wussten sofort, dass wir mit Lætitia zusammenarbeiten wollten, als wir die Idee für Double-Lead-Vocals hatten“, sagen Juliette und Joachim. „Wir wollten einen härteren Gitarrentrack auf dem Album, und im Nachhinein betrachtet war es eine absurde und zugleich berauschende Erfahrung, diese unverschämt lauten Gitarren in unserer winzigen 1-Zimmer-Wohnung in Highland Park zur Zeit der größten Covid-Panik aufzunehmen.“ In der Tat wird der Song ebenso spacig wie fuzzig, er vereint Kraft und Geheimnis. Das neue Album von Pearl & The Oysters namens Coast 2 Coast erscheint am 21. April.
Während Pearl & The Oysters, die ursprünglich aus Frankreich kommen und dann einige Zeit an der US-Ostküste aktiv waren, sich Los Angeles erst kürzlich als Wahlheimat ausgesucht haben, will Singer-Songwriterin Graciehorse, die tatsächlich in der „City Of Angels“ zuhause ist, dort offensichtlich so schnell wie möglich weg. L.A. Shit heißt nämlich ihr neues Album, das am 19. Mai erscheinen wird. Man darf das wohl auch als einen Witz betrachten angesichts der Tatsache, wie viele Kolleginnen und Kollegen aus der Musikszene der Stadt sie auf der Platte einbindet. „Ich bin dankbar und stolz, so viele meiner Freunde auf dieser Platte präsentieren zu dürfen“, sagt sie. Viele der Beteiligten arbeiten als Tournee- und Session-Musiker*innen und hatten während der Pandemie keine Jobs. Auch für Graciehorse selbst war Corona letztlich ein entscheidender Faktor für die Entstehung der Platte. Denn sie hatte zuletzt als Krankenschwester ihr Geld verdient. Erst, als sie nach einem Arbeitsunfall diese Tätigkeit aufgeben musste, beschäftigte sie sich wieder intensiver mit dem Musikmachen und nutzte die freie Zeit, viele teilweise schon sehr alte Song-Ideen tatsächlich zu vollenden. So war es auch beim Vorab-Stück Hollow Head (***1/2). „Ich habe vor fünfzehn Jahren angefangen, dieses Lied zu schreiben. Aber ich hatte nie die Gelegenheit, mich hinzusetzen und so viel daran zu arbeiten, wie ich wollte“, erzählt sie. Ihr Sound ist noch immer klischeefreier Country, der keine Angst davor hat, auch mal anzuecken. Das Lied lebt von den Geschichten der kleinen Leute und dem Händchen für die große Geste, sodass es irgendwo zwischen Lucinda Williams und Tom Petty landet. Im Album-Song What I’m Missing baut Graciehorse übrigens auch ihre eigenen Erfahrungen über die Arbeit im Gesundheitswesen während der Pandemie ein.
Zumindest aus zweiter Hand bekamen auch William The Conqueror mit, wie heftig die Corona-Auswirkungen in vielen sozialen Berufen sein können. Die Ehefrau von Frontmann Ruarri Joseph kümmert sich als Sozialarbeiterin um Menschen mit angeschlagener psychischer Gesundheit und hatte nach Beginn der Pandemie so viel zu tun, dass sie ein halbes Jahr lang kaum Schlaf fand. „Das machte es mir unmöglich, zu jammern oder die Tatsache zu beklagen, dass alles, woran ich in den vergangenen fünf Jahren gearbeitet hatte, zum Stillstand gekommen war. Es war eine dringend benötigte Perspektive und machte mir klar, was für ein egoistisches Unterfangen die Band gewesen war – Nabelschau mit dem Kopf in den Wolken, während die Menschen Stiefel auf dem Boden brauchten, vorzugsweise an den Füßen von jemandem wie Mandy“, blickt Ruarri Joseph auf die Erfahrungen seiner Gattin. Prompt bot auch er sich selbst als Aushilfsbetreuer an, was die zehn Songs für das neue Album Excuse Me While I Vanish (kommt am 28. Juli heraus) entscheidend mit geprägt hat. Die englische Band, komplettiert durch Naomi Holmes (Bass) und Harry Harding (Schlagzeug), hat ihr viertes Album selbst produziert, der erste Vorgeschmack ist Somebody Else (****), das laut Joseph „aus einer ganz bestimmten Erinnerung daran entstand, dass ich nicht wusste, welche Version von mir selbst ich eigentlich spielen sollte. Es war eine Identitätskrise in Echtzeit.“ Im Song geht es unter anderem um Beistand, der nicht einmal erwünscht ist, am Ende aber trotzdem hilft – und man hört nicht zuletzt am packenden Drive des Lieds, wie sehr William The Conquerer das gemeinsame Musikmachen als Ventil und Ausweg aus diversen Krisen genießen.
David Christian, Mastermind von Comet Gain, hatte während der Pandemie offensichtlich schwere Entzugserscheinungen im Hinblick auf die Musik seiner Band. Seine Selbsttherapie begann im Jahr 2020. Erst nutzte er dabei die Zwangspause, um eifrig im Archiv der Band zu stöbern, dann startete er eine Serie bei Bandcamp, in der er immer freitags einige seiner Fundstücke vorstellte. Die besten dieser Demos, Outtakes, Live-Aufnahmen und (aus teilweise im Rückblick nicht mehr nachvollziehbaren Gründen) nie veröffentlichten Songs hat er nun auf der Compilation The Misfit Jukebox zusammengestellt, die am 2. Juni erscheint. Die 17 Tracks zeigen, wie groß der Fundus der 1992 gegründeten Band ist. Eine Single gibt es auch: Sie stammt zwar ursprünglich schon aus dem Jahr 2011, heißt aber passend zur Lockdown-Stimmung You’re Just Lonely (***1/2). Das Stück kombiniert viel Jangle mit kurzweiligem Call-and-response-Gesang, als hätte jemand die Lemonheads und die frühen Cardigans in einen Raum gesperrt. Die Niedlichkeit in den Stimmen und der Orgel lenken dabei fast von der Wildheit ab, die sich im Hintergrund des Songs entdecken lässt. Das ist eindeutig mehr als Resteverwertung.