Lesen und junge Menschen – das passt nicht mehr allzu gut zusammen. Bei Kindern sagen laut der aktuellen Iglu-Studie nur noch 69,9 Prozent, dass sie gerne lesen, 2001 waren es noch 76 Prozent gewesen. Noch schlechter als um das Interesse ist es um die Fähigkeiten bestellt: Ein Viertel der Kinder, die in Deutschland die vierte Klasse besuchen, ist so schlecht, dass der international festgelegte Mindeststandard nicht erreicht wird, ab dem man davon ausgehen kann, dass sie tatsächlich so gut lesen können, dass sie die Inhalte eines Textes verstehen und somit zum Lernen nutzen können. Die Zahlen wurden 2021 erfasst, die Langzeiteffekte von Corona und Home-Schooling sind also noch gar nicht berücksichtigt. Freilich kann man so eine Pandemie als junger Mensch auch nutzen, um mal in aller Ruhe ein Buch zu lesen. Sweed, der aus Stuttgart kommt und jetzt in Berlin lebt, hat das im März 2020 gemacht. Innerhalb von zwei Tagen hat er The Old Man And The Sea gelesen, einen der berühmtesten Romane von Ernest Hemingway. Es geht im Buch um einen Fischer namens Santiago, der monatelang vergeblich versucht, einen riesigen Fisch zu fangen. Als er ihn dann endlich an der Angel hat, kommen Haie und rauben ihm seinen Fang. Die Handlung thematisiert also den Kampf des Menschen gegen die Natur, ebenso wie das Ringen mit der eigenen Einsamkeit. Sweed konnte sich, kein Wunder angesichts der Covid-19-Umstände, bestens in Santiago hineinversetzen und wurde von der Lektüre zu einem neuen Song inspiriert. „Ich las unentwegt und begann zu schreiben, vergaß die Zeit. Ich wusste nicht, ob ich glücklich oder total geschlaucht aus der Quarantäne rauskomme“, sagt der 25-Jährige, der zuletzt auch im Vorprogramm von Leoniden und Paula Hartmann zu sehen war. Ergebnis ist das morgen erscheinende Old Man And The Sea (***), sein erstes neues Lied seit der 2022er EP Sweedlife. Das Stück klingt erstaunlich heiter und kraftvoll für die Betrachtung einer existenziellen Krise, das passt aber erstens zum bekannten Sound von Sweed und zweitens zur Quintessenz aus Roman und Song: Man braucht Herausforderungen, um gestärkt daraus hervorgehen zu können und als Persönlichkeit zu reifen. „Ich habe mittlerweile herausgefunden, dass es wichtig sein kann, durch solche isolierenden Momente zu gehen, um wieder zu sich selbst zu finden und vielleicht auch mal kurz den Verstand zu verlieren“, sagt Sweed.
Ganz anders hat die in Chicago lebende Musikerin und Dichterin Jamila Woods die Zeit von Lockdown und Pandemie genutzt. Nach der Tour zum 2019er Album Legacy! Legacy! und der folgenden Quarantäne hatte sich so viel kreative Energie in ihr angestaut, dass sie so viele Songs wie möglich schreiben wollte. Sie erlebte dann tatsächlich eine monatelange Phase mit tiefer Kreativität und enormem Output. Das führte aber gleich zum nächsten Problem: Ihre bisherigen Alben hatten immer ein Leitmotiv gehabt, etwa Feminismus oder die Errungenschaften der schwarzen Kultur. Diesmal tat sie sich schwer, in der Fülle des neuen Materials ein verbindendes Element zu finden. Erst, als sie mit dem Schreiben eines Tagebuchs begann, eine Therapie machte und auch noch astrologische Hilfe suchte, wurde ihr klar, worin der rote Faden lag: Es geht diesmal um Liebe, Intimität und Beziehungen sowie die Muster darin, die sie bisher erlebt hat. All das fließt nun ein ins neue Album Water Made Us, das am 13. Oktober erscheinen wird. Die erste Kostprobe ist das von Wynne Bennett produzierte und mit einem Gastauftritt von duendita angereicherte Tiny Garden (****). Jamila Woods beteuert darin, dass sie sich mit einer anderen Person eng verbunden fühlt – und erkennt zugleich, wie schwer es ist, so ein Gefühl dem Gegenüber auch zu beweisen. Umgesetzt wird das mit einem dezenten Beat und einer sehr cleveren, detailreichen und modernen RnB-Produktion. Man kann nur staunen, wie es hier gelingt, mit fast rein digitalen Mitteln so viel Wärme und Intimität zu erzeugen. Das passt bestens zum Eindruck, den Jamila Woods mit dem neuen Album vermitteln will: „Water Made Us fühlt sich an wie das persönlichste und verletzlichste Kunstwerk, das ich je gemacht habe.“
Fast sieben Millionen Menschen sind bisher weltweit im Zusammenhang mit Corona gestorben. Vielleicht hatte Songwriterin Christina Schneider alias Locate S,1 diese Zahl im Kopf, als sie sich am 4. Juli 2020 zuhause in Georgia über ihre Landsleute wunderte. Parallel zu den Corona-Auwirkungen gab es schließlich auch noch die Proteste nach dem Tod von George Floyd, aber auf den Straßen wurde dennoch ungehemmt mit Feuerwerk und Paraden der Nationalfeiertag begangen. „Die Feiern, die ich in meinem Viertel hörte, waren mir zuwider. Ich hatte gerade eine Zeile von Cassavetes gelesen: „Vielleicht gab es wirklich kein Amerika. Vielleicht gab es nur Frank Capra.‚ Ich setzte mich an mein offenes Studiofenster, damit ich die Explosionen hören konnte, während ich diesen Song schrieb“, erzählt sie über die Single Go Back To Disnee (***1/2), die auf ihrem morgen erscheinenden Album Wicked Jaw enthalten sein wird. Das Lied nutzt auf sehr kluge Weise einen Bossa-Nova-Rhythmus und Easy-Listening-Atmosphäre als schmerzhaften Kontrast zur schmutzigen, zerstrittenen und brutalen Realität der USA. Zwei Jahre lang hat sie an der Platte gearbeitet, als wichtiges Thema darauf betrachtet sie das Überleben – nicht nur im Hinblick auf die Pandemie, sondern auch auf andere traumatische Erfahrungen in ihrem Leben wie dem sexuellen Missbrauch durch einen Verwandten, als sie ein Kind war: „Ich habe diese Lieder als Ventil für all diese verschiedenen Teile meiner selbst benutzt, die ich zu integrieren versuchte.“
Jay Watson alias Gum ist nicht unbedingt ein Mann, der für langsames Arbeiten bekannt ist. Mit seinem Solo-Projekt Gum hat er bisher fünf Alben veröffentlicht, dazu kommen neun Platten mit Pond, wo er als Co-Frontmann agiert, und auch noch ein Job als Tourmitglied von Tame Impala. Für die neue Gum-Platte Saturnia, die am 15. September erscheint, hatte er allerdings so viel Zeit wie nie. Das lag daran, dass er erneut Vater geworden ist und sich mehr in die Kinderbetreuung einbringen wollte. Es lag aber eben auch daran, dass er während der Pandemie keine Konzertverpflichtungen hatte. „Wegen Covid und weil ich ein zweites Kind hatte, schrieb ich zum ersten Mal überhaupt Songs, über die ich dann monatelang nachdenken konnte“, sagt er. Ein Beispiel ist die zweite Vorab-Single Would It Pain You To See? (***1/2). „Ich habe das Lied im Lockdown mit meinem neugeborenen Sohn auf meiner Wurlitzer geschrieben. Meine Songs sind nie wirklich wörtlich oder mit offensichtlicher Bedeutung, aber wenn ich sagen müsste, worum es in diesem Song geht, wäre es der Konflikt zwischen Apathie und der Sorge um etwas, der in uns allen steckt. In der heutigen Zeit scheint das besonders verwirrend und krude zu sein. Ich liebe den wunderschönen Streicherpart, der von Jesse Kotansky gespielt wird“, sagt Watson über das Stück. Den sehr entspannten und etwas psychedelischen Eindruck des Songs sowie die feine Dramaturgie unterstreicht das Video von Michael Hili wunderbar. „Jay ist ein solches Talent, man kann seinen Fingerabdruck auf jedem Teil des Songs spüren, ein wahrer Studiozauberer“, sagt der Regisseur dazu. „Die Inspiration für das Video kam von der Vorstellung, dass Jay in seinem Hinterhofstudio den Track zusammensetzt. Während des Prozesses vergeht die Zeit und verändert sich, Charaktere tauchen in Kostümen auf und spielen den Streicherpart, den Jay in seinen Gedanken schreibt. Irgendwann in den späten Stunden schleicht sich Unsicherheit ein, die man spüren kann – durch die Augen einiger Dämonen und Inspirationen.“
Bei weitem nicht so produktiv sind Ben Woodmason (Gitarre), Joel Griffith (Gesang), Tim Woodmason (Schlagzeug) und Jimmy Campbell (Bass) von Mid City. An Happy Ever After (***1/2), dem Titelsong ihres für 25. August angekündigten Debütalbums, haben sie tatsächlich drei Jahre lang gefeilt. „Es war ein Demo, das in 17 verschiedenen Versionen herumgeisterte, und wir konnten es einfach nicht knacken. Erst als wir komplett neu überdachten, was einen Mid-City-Song ausmacht, passte alles zusammen. Und als er dann endlich fertig war, gab er uns allen ein Gefühl, das wir noch nie zuvor beim Musikmachen hatten“, sagt die Band als Melbourne. „Das Lied ist zum Fahnenträger für das ganze Album geworden. Auf eine lustige, poetische Art und Weise fasst es so viel von dem zusammen, was die Band für uns bedeutet hat – immer kämpfen und streben und hoffen, dass wir aus Situationen ausbrechen können, die uns beschränken, und etwas schaffen können, das all das wert ist.“ Der packende Track zeigt ihre Lust auf große Melodien und noch größere Gesten und dürfte sich irgendwo zwischen den Stereophonics und Biffy Clyro sehr zuhause fühlen. Nicht nur mit diesem Song, sondern auch mit ihrem ersten Album hatten Mid City übrigens richtig zu kämpfen. „Dieses Ding hat so verdammt lange auf sich warten lassen. Natürlich gab es Covid, aber das ist keine Entschuldigung für halbwegs funktionierende Musiker wie uns“, sagen sie im Rückblick. „Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, dass die Leute denken, wir veröffentlichen nur Singles, weil uns nicht genug Songs für ein Album einfallen oder so. Das stimmt nicht! Wir sind einfach sehr, sehr wählerisch bei dem, was wir machen wollen…. und außerdem sind wir total pleite“, sagen sie. Auch die Bedeutung von softeren Songs ist ihnen während der Entstehungsphase erst nach und nach klar geworden, was sich ebenfalls deutlich auf Happy Ever After ausgewirkt hat: „Wir sind wirklich stolz auf die Balance, die wir zwischen Knallern und gefühlvolleren, ruhigeren Momenten gefunden haben. Vielleicht werden wir reifer? Ich hoffe nicht!“