Cherry Glazerr Ready For You Review

Corona-Musik 43 mit Cherry Glazerr, Ill Peach, Beirut, Marika Hackman und Alina Lieske

Wenn man als Künstlerin unverhofft viel freie Zeit hat, ist es wohl nicht verwunderlich, mit ein paar Spielereien zu beginnen. Clementine Creevy, die Frau hinter Cherry Glazerr, hat das auch getan. Ein paar Töne auf dem Keyboard hier, ein paar Passagen auf dem Sequenzer dort, ein bisschen Weiterbildung in digitaler Musikproduktion in Eigenregie. Sie nennt das selbst „Computermusik“, und es war ihre größte kreative Beschäftigung zu Beginn der Pandemie. „Es machte Spaß, zu experimentieren, aber nach einer Weile vermisste ich den Rock einfach“, sagt sie heute. Ergebnis ist die Single Ready For You (****), erster Vorbote auf das vierte Album I Don’t Want You Anymore, das morgen erscheinen wird. Es geht in diesem Lied, das enorm energisch ist, insbesondere in der Strophe aber auch die nötige Subtilität bietet, um die manchmal schmerzhafte Erkenntnis, dass andere Menschen nicht immer etwas dafür können, wenn es dir selbst scheiße geht – und dass dein Zustand in jedem Fall nicht zwingend besser wird, wenn du diese Scheiße an deinem Umfeld auslässt. „Manchmal habe ich Angst, die Leute mit meinen Problemen anzustecken, und ich möchte mich einfach nur verstecken, weil ich sie dann vor mir selbst retten kann. Dieser Song hilft mir, da durchzukommen und mich mit diesen Gefühlen der Unzulänglichkeit zu konfrontieren, und ich hoffe, dass er das auch für andere Menschen tut“, sagt Creevy. Diese Selbsterkenntnis soll typisch sein für die gemeinsam von ihr und Yves Rothman (Yves Tumor, Blondshell) produzierte Platte. Denn das zwangsweise Herunterkommen durch die Pandemie hat die Künstlerin auch genutzt, um eine emotionale Inventur zu machen, für die zuvor während fast zehn Jahren Nonstop-Tourneen keine Zeit war. „Ich habe die Jahre seit 2019 damit verbracht, mich selbst und meine Beziehungen unter die Lupe zu nehmen und darüber zu schreiben“, sagt sie, was zugleich auch die Erklärung für den Titel des neuen Albums liefert. „Ich schätze, ich komme mit viel von meinem Scheiß jetzt besser klar.“

Ganz anders reagierte Marika Hackman Anfang 2020 auf den abrupten Wechsel vom Dauer-Stress aus Komponieren, Studioarbeit, Selbstvermarktung und Konzerten zu totaler Ruhe: Sie fiel in eine Schreibblockade. Seit sie 19 Jahre alt war, haben das Leben und das Selbstverständnis als Musikerin sie geprägt, vor allem aber waren ihre Songs stets auch eine Möglichkeit, ihre eigenen Ängste zu verarbeiten. Mit der Lockdown-Schockstarre fiel diese Möglichkeit weg, und das machte der Engländerin nach eigenen Angaben enorm zu schaffen. Dass sie es mittlerweile heraus geschafft hat, beweist die neue Single No Caffeine (****), die sie als „eine Liste von Dingen, die ich tun muss, um keine Panikattacke zu bekommen“ bezeichnet. Laut Songtext gehören dazu beispielsweise: „Occupy your mind / don’t stay home / talk to all your friends / but don’t look at your phone / scream into a bag / try to turn your brain off.“ Das gespenstisch reduzierte Klavier scheint den Horror dieser Tage zu repräsentieren, rundherum schleichen sich dazu immer mehr kleine und große Monster heran, ordentlich schlüpfrig wird es bei ihr natürlich auch wieder. Produziert hat sie den Song mit Sam Petts-Davies (Warpaint) und ihrem langjährigen Wegbegleiter Charlie Andrew (Alt-J), alle Instrumente außer den Bläsern und Streichern hat sie ebenfalls selbst eingespielt. Das Tief scheint also überwunden, und Indizien für ein neues Album von Marika Hackman häuften sich zuletzt auch.

So isoliert wie Zach Condon alias Beirut den Jahresanfang 2020 verbracht hat, hätte er sicher viel Applaus von Epidemiologen ernten können. Doch seine Abgeschiedenheit hatte gar nichts mit Covid zu tun. Vielmehr suchte er nach der Veröffentlichung von Gallipoli (2019), der anschließenden Konzertreise und den Problemen mit seiner Stimme, die ihn zum Abbruch der Tour zwangen und seine Zukunft als Livemusiker insgesamt infrage stellten, einfach etwas Ruhe und vielleicht auch einen Ort, der einen Neuanfang möglich machen würde. Er fand ihn auf der Insel Hadsel, nicht weit weg vom Polarkreis, auf den Vesterålen im Norden Norwegens. Die Insel hat nun auch seinem neuen Album den Namen gegeben, Hadsel kommt am 10. November heraus. Denn auf einer Kirchenorgel aus dem 19. Jahrhundert, die er dort zwei Monate lang benutzen durfte, entstanden die ersten Ideen für die zwölf Songs, die er dann nach der Rückkehr nach Berlin (mitten im vollständigen Lockdown) komplettierte. „Während meiner Zeit in Hadsel habe ich hart an der Musik gearbeitet. Ich war wie in Trance und stolperte blindlings durch meinen eigenen geistigen Zusammenbruch, den ich seit meiner Teenagerzeit verdrängt hatte“, erzählt er im Rückblick. „Ich musste mich mit vielen vergangenen und gegenwärtigen Dingen herumquälen, während die Schönheit der Natur, die Nordlichter und die furchterregenden Stürme um mich herum eine fantastische Show ablieferten. Die wenigen Stunden Licht brachten die unergründliche Schönheit der Berge und Fjorde zum Vorschein, und die stundenlange Dämmerung erfüllte mich mit gedämpfter Erregung. Ich würde gerne glauben, dass diese Landschaft irgendwie in der Musik präsent ist.“ Ob das zutrifft, kann man bereits jetzt in der Single So Many Plans (***1/2) nachhören, die mit seinem typisch versonnenen Gesang auf Dekadenz und Vanitas-Motive anspielt, während die Instrumentierung so unberechenbar ist wie immer bei Beirut, mit Bariton-Ukulele, Trompete, einem interessanten Rhythmus-Track und eben der besagten Kirchenorgel. Das Stück ist sehr direkt durch die Pandemie-Effekte beeinflusst, sagt Condon: „Mir gefällt, dass dieses Lied ein Gleichgewicht zwischen den Gefühlen von Akzeptanz, Hoffnung und Aufgeben herstellte. Der Text stammte aus einem Lamento aus den Corona-Zeiten, das mühelos in eine Art kurzes Wiegenlied überging.“

Für Alina Lieske bedeutete Corona in erster Linie: Warten. Genauer gesagt: Noch mehr Warten, nachdem sie ohnehin schon sehr viel gewartet hatte. Kein Wunder, dass sie das Ergebnis all dieser Geduld jetzt gleich doppelt raushaut, und zwar in recht kurzer Folge: Am 26. Mai veröffentlichte sie ihr Debütalbum Winter im Mai, gut zwei Monate später ließ sie dann Winter In May folgen, das dieselben Songs mit englischen Texten und als neue, eigenständige Interpretationen enthält. So ungewöhnlich diese Vorgehensweise ist, so ungewöhnlich (und langwierig) war auch die Entstehung dieser elf Lieder. Alina Lieske, die auch als Schauspielerin erfolgreich ist und schon als Kind auf der Bühne stand, hat acht Jahre an ihrer ersten Platte gearbeitet und insbesondere viel Wert auf die richtigen Personen an ihrer Seite gelegt. Als das Werk dann fast fertig war, wurde ihr wichtiger Mitstreiter Jürgen Frommherz schwer krank. Sie musste sich erneut auf die Suche machen, traf in Südafrika den Produzenten Peter Pearlson und wollte mit ihm gemeinsam loslegen – da kam Corona dazwischen. Das Warten ging also weiter, bis zu diesem Sommer. Songs wie Betty Blue (*1/2) deuten allerdings eher auf einen Ego-Trip hin als darauf, dass die Welt auf diese Musik gewartet hätte: Man erahnt zwar die Kraft der 4-Oktaven-Stimme von Alina Lieske, aber die englischen Reime sind mittelprächtig und die Musik ist mit nervösem Bass und angeberischen Bläsern bemüht kunstvoll. Das zeigt wieder einmal, dass es nur eine Sache gibt, die noch schlimmer ist als Jazz: Halbjazz.

In New York haben Pat Morrissey und Jess Corazza zusammen als Songwriter*innen für andere Leute gearbeitet. Der Wunsch, ein gemeinsames Projekt irgendwo zwischen Synthies und Punk auf die Beine zu stellen, war damals schon präsent. Auch, weil sie den Eindruck hatten, dass ihr Material („slightly too left-of-center — weirdo stuff“, nennt es Morrissey) vielleicht nicht unbedingt ideal war, um von anderen Acts in die Charts gebracht zu werden. Den Anstoß dafür, dass sie diesen Job aufgaben, nach Los Angeles übersiedelten und nun als Ill Peach tatsächlich ein Duo bilden, gab die Pandemie. „Der Schleier der Musikindustrie fiel. Man konnte sich hinter nichts mehr verstecken, weil alles zu verdammt real war“, beschreiben sie ihre Eindrücke aus den Covid-Monaten. „Es hat uns geholfen, uns kreativ zu entfalten und uns von der [Industrie-]Seite der Dinge zu entfernen, so dass wir einfach sagen konnten: Das ist unsere neue Identität. Jetzt lass uns das mit vollem Einsatz angehen!“ Am 3. November wird das Debütalbum This Is Not An Exit erscheinen, auch der Titel der Platte ist eine Anspielung darauf, dass man Zeiten der Krise auch als Chance betrachten kann. „Ich bin immer wieder in Gebäude hineingegangen und habe versucht, irgendwo wieder herauszukommen. Dabei bin ich ständig an Schildern gelandet, die mir sagten: ‚Dies ist kein Ausgang'“, sagt Jess Corazza. „Es fühlte sich an wie eine Metapher dafür, die Hoffnung hoch zu halten: Gib noch nicht auf!“ Der Lead-Track Colliding (****) handelt davon, „Schönheit in Reibung und Kontrast zu finden, weil der wahre Scheiß, der dich lebendig macht, in den krassen Gegensätzen liegt. Außerdem geht es darum, zu lernen, die Unterschiede zu lieben und wie sie eine Beziehung auf gesunde Weise prägen können, und einfach damit klarzukommen“, sagen Ill Peach. Das Lied zeigt, wie gut die Idee war, sich mit ihrem Sound selbstständig zu machen: Der Song ist hoch modern und hat mindestens dreimal so viele Ideen, wie man normalerweise für 163 Sekunden braucht. Das Duo beweist Spaß an Pop, hat kein Problem mit Eingängigkeit, aber auch hörbar keine Lust auf Anbiederung. Und alleine die Stimme von Jess Corazza ist eine Entdeckung, die den einen oder anderen Quaränte-Moment deutlich erträglicher und heller machen kann.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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