Wenn jemand sein neues Album Quaranta nennt, dann darf man einen Bezug zur Pandemie wohl mehr als vermuten. Danny Brown ist dieser jemand, und die übermorgen erscheinende Platte ist tatsächlich 2021 inmitten der pandemischen Abriegelungen entstanden. Der Mann aus Detroit hat diese Rahmenbedingungen zum Anlass genommen, auf seinem siebten Studioalbum persönlicher zu werden als je zuvor. Die zweite Single Jenn’s Terrific Vacation (***1/2) nimmt die Gentrifizierung in seiner Heimatstadt in den Blick, mit all den typischen Effekten wie ruinösen Mieten und Schicki-Micki-Gastronomie, aber eben auch mit einem echten Gefühl unmittelbarer Betroffenheit und einem ziemlich abgefahrenen, sehr abstrakten Sound irgendwo zwischen Clipping und Busta Rhymes. Als Gast ist Kassa Overall dabei, weitere Features auf Quaranta kommen beispielsweise von SKYWLKR, The Alchemist, Quelle Chris, Paul White, der Bruiser Brigade Crew, Bruiser Wolf und MIKE. Dass die vollständige Liste noch deutlich länger ist, dürfte kaum verwundern, umgibt sich Danny Brown doch sowohl in seinem aktuellen Comedy-Podcast gern mit Sparringspartnern als auch in seiner bisherigen Rap-Karriere, in der er unter anderem mit Earl Sweatshirt, Q-Tip und Kendrick Lamar zusammengearbeitet hat. Detroit hat er übrigens mittlerweile verlassen. Er lebt seit einer Weile in Austin, Texas.
Daniel Germiquet (Schlagzeug) und Dominic Montani (Gitarre/Gesang) sind im gleichen Dorf aufgewachsen und machen jeweils seit vielen Jahren schon Musik. Ohne Corona wäre aus ihnen aber vielleicht nie eine Band geworden. Eine 2019 spielten die beiden Schweizer erstmals zusammen und stellten fest, dass sich da etwas Besonderes anbahnt. Als Crawling Crows entwickelten sie ihren Zwei-Personen-Sound im Stile der White Stripes und von Royal Blood weiter, durch die Pandemie hatten sie auch mehr als genug Zeit dafür. Die erste Single Save Me From Myself wurde während der Quarantäne in den heimischen vier Wänden geschrieben und aufgenommen, sie kam 2020 heraus. Zwar konnte damals niemand sagen, wenn es wieder Gelegenheiten für Livemusik geben würde, genau mit diesem Ziel erweiterte das Duo aber stetig sein Repertoire und gab dann im Jahr darauf tatsächlich erste Konzerte. Fürs Frühjahr 2024 ist nun das Album Pyrrhocorax angekündigt, benannt nach der Alpenkrähe, die in ihrer Heimat durch die Lüfte flattert. Die Platte behandelt aber keineswegs Ornithologie, sondern Themen, die bestens in den Pandemie-Kontext passen, wie die beiden Musiker berichten: Depressionen, Burnout und Verzweiflung. Das gilt auch für die neue Single Riders Of The Storm (**1/2) mit Zeilen wie „You drown in loneliness / and slowly sink to the ground.“ Neben den oben bereits erwähnten Einflüssen dürfte das mit seiner Wucht, der dezenten Elektronik und dem hymnischen Gestus sicher auch Fans von Muse gefallen.
Auch Issermann darf man guten Gewissens als Covid-Profiteur bezeichnen. Der in London lebende Franzose (bürgerlich: Luis Issermann) war einst Sänger einer Heavy-Metal-Band und hat dann als Rap-Produzent gearbeitet. Während der Pandemie schärfte er sein Profil als Solokünstler gekonnt mit Online-Shows, die ihm vor allem über Mundpropaganda sehr viele neue Fans eingebracht haben – auf mehr als eine Million Streams kommt er auf diese Weise mittlerweile. Seine Community darf sich nun auf eine neue EP freuen, Very Dramatic And A Little Tragic kommt im Dezember heraus. Als zweite Vorab-Single daraus ist gerade Ricochet (***) erschienen, das Issermann gemeinsam mit Jony Rockstar (Bastille, Kylie Minogue, All Saints, Sugababes) produziert hat. Deren Pop-Appeal kann man dem Track durchaus anhören, ebenso wie das Zusammentreffen von Eingängigkeit und Selbstzweifeln, wie man das beispielsweise von den Wombats kennt. Denn das Lied hat einen recht tiefgründigen Kontext, wie Issermann betont: „Auf meiner EP geht es darum, sich zu verbinden und zu verstehen, woher man kommt und wie man seine Identität schmiedet. Ricochet handelt von meinem Vater, seiner Sucht, seinem Tod und wie er mich geprägt hat, manchmal auf eine Weise, die ich nicht kontrollieren kann und konnte. (…) Es ist eine emotionale Freiheit und Befreiung, alles auf den Tisch zu bringen, was mir wirklich wichtig ist.“ Ein Anliegen, das sich auch auf die bedrückenden Corona-Monate übertragen lässt, hat Issermann auch noch: „Indem ich in diesem Lied über mich selbst spreche, möchte ich deutlich machen, wie sich das anfühlen kann, so dass es auch andere nachvollziehen können. Das ist eine Möglichkeit, diese Dinge zu erkennen und sie rauszulassen.“
„Waiting for some sign / wasting time / breath in hollow air / nothing’s there“, singt Frontsängerin Julia Shapiro in Hollow (***1/2), der neuen Single von Chastity Belt. Natürlich ist damit die Pandemie-Tristesse gemeint, denn Live Laugh Love, das fünfte Album von Shapiro, Lydia Lund (Gitarre, Gesang), Gretchen Grimm (Schlagzeug, Gesang) und Annie Truscott (Bass, Gesang), entstand während der Covid-Hochphase. „Ein klassisches Lied in unserem Chazzy-Stil, in dem es darum geht, sich verloren und festgefahren zu fühlen und darauf zu warten, dass sich etwas ändert, ohne unbedingt etwas zu unternehmen“, beschreibt das Quartett die Single, die auf reizvolle Weise tatsächlich etwas träge und desillusioniert klingt. „Je älter ich werde, desto mehr erkenne ich, dass ich mich vielleicht immer so fühle, und dass es mehr darum geht, mit dem Gefühl zu leben und es zu akzeptieren, als zu versuchen, es zu bekämpfen. Ich bin immer noch hier und mache mein Ding, was auch immer das ist. Ich erinnere mich, dass wir das erste Mal zusammen an diesem Song gejammt haben, als wir alle in Joshua Tree während der Pandemie waren“, so Julia Shapiro. Live Laugh Love entstand schließlich in drei Sessions im Januar 2020, November 2021 und 2022. Der Titel der neuen Platte findet sich übrigens nicht nur als Spruch auf einer Deko-Tafel im sehr amüsanten Influencer-Verarschungsvideo, das die Band zur Single gedreht hat, sondern auch als Tattoo auf dem linken Knöchel der Sängerin. Einen ebenfalls bestens zu Corona passenden Albumtitel hatten sie ja leider schon für den 2017 veröffentlichten Vorgänger verbraten: I Used to Spend So Much Time Alone.
Zum Schluss noch ein Nachtrag: Schon 2020 hat Spotify ein Lied der damals 18-jährigen Ella Smoker alias gglum auf seine “Fresh Finds”-Playlist gesetzt, das dann tatsächlich sehr beliebt wurde, weil es so gut zur Covid-Stimmung passte. Shitesite hat Why Don’t I Care (****) leider erst jetzt entdeckt, aber Zeilen wie „Silence is my comfort / but not today / lately home / has just felt so far away“ oder „Want it to be over / but it’s just begun / so I stay up till the morning / and wait for the sun“ können einem natürlich auch mit drei Jahren Verspätung noch einen ordentlichen Stich ins (womöglich durch gefährliche Atemwegsinfekte angeschlagene) Herz versetzen, ebenso die versonnen-verlorene Atmosphäre des Lieds und die immer wieder wiederholte Titelzeile. Dass gglum auch schon ein Lied von Girl In Red gecovert hat, passt wunderbar als Referenz, ebenso Alex G, Phil Elverum und Adrianne Lenker, die von der Londonerin als Vorbilder genannt werden. Dass sich alles luftig, organisch und intuitiv anfühlt, zeichnet auch die Songs aus, die sie nach diesem Corona-Hit veröffentlicht hat, und ist eine ganz bewusste Entscheidung: „Ich neige wohl von Natur aus eher dazu, musikalische Räume zu schaffen, in denen man das Gefühl hat, zu leben, als tatsächlich zu versuchen, Songs zu schreiben. (…) Ich möchte Musik machen, die sich so anfühlt, als ob man aus dem Fenster schaut, wenn der Film zu Ende ist, und man sich vorstellt, was als nächstes kommt. Das ist der Sound, den ich machen möchte.“