Hinds En Forma

Corona-Musik 50 mit Hinds, Odd Behoder, Älice, Mark Ambor und Courteeners

Man darf das wohl eine Krise nennen: Nach der Veröffentlichung von The Prettiest Curse (2020) verloren Hinds ihre Bassistin und Schlagzeugerin. Management und Plattenfirma kehrten ihnen ebenfalls den Rücken. Und dann waren da noch unzählige Konzerte, die wegen der Covid-Pandemie nicht stattfinden konnten, mit entsprechenden finanziellen Einbußen für die Spanierinnen, die zuvor beispielsweise schon im Vorprogramm für Coldplay und die Strokes zu sehen gewesen waren. Carlotta Cosials und Ana Perrote, die beiden verbliebenen Mitglieder, hat das aber noch enger zusammengeschweißt. „Wir haben die Band gegründet, weil wir uns so sicher und wohl miteinander fühlen. Unsere Beziehung ist unzerstörbar“, sagt Cosials. „Diese Verbindung zwischen uns hat sich seit den Anfängen nicht verändert. Wir beenden immer noch die Ideen der anderen, lachen über die Witze der anderen und reimen uns gegenseitig unsere Zeilen. Diesen Enthusiasmus für die Musik und für Hinds über die Jahre hinweg aufrechtzuerhalten, mag extrem schwierig erscheinen, aber das ist etwas, das nur mit der allerbesten Freundin passieren kann.“ Zum Ausdruck kommen soll diese Stärke auch auf dem vierten Album Viva Hinds, das im September erschienen ist. Die Platte wurde mit Produzent Pete Robertson (Beabadoobee) in Frankreich aufgenommen und enthält Gastbeiträge von Beck (auf dem bereits veröffentlichten Track Boom Boom Back) und Grian Chatten (von Fontaines D.C., auf einem Song namens Stranger). Auf der dritten Vorab-Single En Forma (****) singen Hinds erstmals komplett auf Spanisch, klingen sehr bestimmt und dringlich. Man erkennt zwischen den energischen Drums und dem mitreißenden Refrain, dass sie keinen Bock auf Kompromisse haben, aber stattdessen eine nicht geringe Lust, Unruhe zu stiften. Manchmal scheinen sie in diesem Song am Rande des Nervenzusammenbruchs zu stehen, zugleich ist da aber auch viel innere Stärke zu erkennen, genauso wie das Wissen um die Kraft der Gemeinschaft. Auch dieser Song ist übrigens von den Erfahrungen einer schweren Zeit geprägt. „Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht und ich bin in derselben Woche 30 Jahre alt geworden. Dies war der erste Song, den ich schreiben konnte, nachdem ich mich monatelang absolut am Boden zerstört, unbeweglich und erbärmlich gefühlt hatte. Ich wollte einfach nur gesund werden, aber ich konnte es nicht, ich kam mit diesem ewigen Wettlauf, glücklicher und besser und sauberer und gesünder zu sein, nicht zurecht“, erzählt Cosials. Ihre Bandkollegin Ana Perrote ergänzt: „Wenn ich mich mit meinen Freundinnen unterhalte, können wir am selben Nachmittag über Kriege, Philosophie, Liebe und Kleidung reden. Ich habe versucht, in diesem Song das Chaos und das riesige Spektrum dessen zu reflektieren, was es bedeutet, heutzutage eine junge Frau zu sein. Wie überwältigend es sein kann, mit den Nachrichten, der Politik, unseren Körpern, Beziehungen und der Wäsche zu jonglieren.“ Das kommt wunderbar im Clip zu En Forma rüber, wo mit Outfits, Büchern, Handy und Hanteln jongliert werden muss – und wo ganz am Schluss in Quasi-Outtakes noch einmal deutlich wird, wie besonders die Freundschaft dieser beiden Musikerinnen ist.

Die Corona-Zeit als Chance begreifen: Diesen Ansatz verkörpert auch Mark Ambor mustergültig. 2020 sollte für ihn eigentlich das bereit halten, was es in den USA für viele junge Menschen bringt, wenn sie gerade ihr Studium abgeschlossen haben: das Zeugnis mit Freunden und Familie feiern, mit den bisherigen Studienfreunden feuchtfröhlich auf die gemeinsame Zeit zurückblicken und in Jahrbüchern schmökern, das Land durchqueren auf einem gemeinsamen Road Trip, vielleicht kombiniert mit der Suche nach den besten Job-Optionen für die Zeit nach der Uni. Die zahlreichen Einschränkungen durch die Pandemie machten die meisten dieser Aktivitäten unmöglich. Stattdessen bunkerte sich der heute 26-Jährige also im Keller seiner Eltern in Westchester County ein, schrieb Texte, nahm Coverversionen auf und stellte all das online. Daraus wurde zunächst die Debüt-EP Hello World (2022), im August folgte Rockwood, sein erstes Album. „Rockwood ist ein Ort, an den man geht, um den Sonnenuntergang zu beobachten, zu trinken, zu rauchen, das erste Date, vielleicht ein Picknick … jeder hat eine Version davon, egal wo man aufwächst“, sagt er über den gleichnamigen State Park in seiner Heimatregion. Dieses Gefühl von Eskapismus und zugleich Identifikation strebt er auch für seine Musik an: „Ich möchte, dass dieses Album eine Art Zuflucht für die Leute ist. Ich möchte, dass sie sich gut fühlen, wenn sie diese Lieder hören. Ich möchte, dass sie sich gehört fühlen. Ich möchte, dass sie sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, dass sie ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl haben, dass sie sich als Teil von etwas fühlen, das größer ist als sie selbst.“ Die Vorab-Single Our Way (***) ist maximal eingängig und angenehm, wie gemacht für den Mainstream-Erfolg und doch einen Hauch substanzieller als viele der üblichen Radiohits. Die Aufforderung, Sorgen hinter sich zu lassen und den Moment zu genießen, passt derweil natürlich auch gut zu den Erinnerungen an die Corona-Monate. Mark Ambor sagt: „Rockwood war für meine Freunde und mich als Heranwachsende die perfekte Möglichkeit zur Zuflucht. Ein Ort, an dem uns für einen Moment die Last der Welt von den Schultern fiel. Wenn ich diesem Album gerecht geworden bin, wird es für jeden, der es hört, diese Zuflucht sein.“

„Wir haben dieses Projekt während der Pandemie konzipiert. Wir hatten das Gefühl, dass wir der Welt etwas Angenehmes, Süßes, etwas Lustiges und Verträumtes schenken wollten. Eine Art Genuss. Eine stille Feierlichkeit“, sagt Daniela Weinmann über ihre neuste Aktivität als Odd Beholder. Die Schweizer Musikerin hat mit der Single Dahlia (***1/2) den Soundtrack zum gleichnamigen Kurzfilm von Agnès Tiberghien und Lumi Lausas gemacht. „Es war, als würde ich ein Stück zu einem bereits existierenden Videoclip schreiben. Ich liebe diesen Ansatz“, sagt sie. Der Film handelt von einer Frau, die für eine andere Frau schwärmt. Weinmann führt dazu aus: „Für mich wurde Dahlia zu einem Manifest für die Befreiung der eigenen sexuellen Fantasien. Ich habe das Lied für Frauen geschrieben, die zu schüchtern sind, um ihre eigenen sexuellen Wünsche zu erkunden, selbst in der Privatsphäre ihres Zimmers, oder sogar in der Privatsphäre ihrer Gedanken“, erzählt Weinmann. Der Song zeichnet zu gehauchtem Synthiepop sehr kunstvoll den Widerstreit zwischen Leidenschaft und Zögern, zwischen Sehnsucht und der Angst vor Zurückweisung und Ausgrenzung nach. Neben dem tollen Zusammenspiel mit dem Kurzfilm ist die irritierende zweite Stimme ein Highlight. Film und Musik werden von einem Parfüm begleitet, das gemeinsam mit Liza Witte aus Amsterdam entwickelt wurde. Dass sich für das Gesamtprojekt zunächst keine Finanzierung fand, hält Weinmann ebenfalls für symptomatisch: „Sinnlichkeit ist immer noch verpönt, Schönheit, Spaß, weiblich kodierte, bunte Dinge werden als minderwertig angesehen. (…) Traditionell haben sich Frauen dafür geschämt, ihren eigenen Körper zu besitzen und zu genießen. Das wirkt sich bis heute aus.“

„Die letzte Platte kam genau an der Schwelle zum Lockdown heraus, also ging ich sofort wieder in meinen Panik-(Schreib-)Modus… allein, aber ohne wirklichen Plan. Ich war mir nicht sicher, ob es ein Nebenprojekt, neues Material für die Courteeners oder ein Solowerk werden sollte. Einfach nur Songs. Alles war noch in der Schwebe. Es war also nicht unbedingt ein Courteeners-Sound… Ich habe aus Spaß angefangen, meine Indie-Rolodex zu durchforsten, und am Ende war es das kollaborativste und lohnendste Projekt, das wir je gemacht haben. Es ist eine echte Collage von einem Album, wir haben alles in den Schmelztiegel geworfen“, sagt Liam Fray, Frontmann der Courteeners, über das siebte Studioalbum seiner Band, das den Titel Pink Cactus Café trägt und am 25. Oktober als Nachfolger von More. Again. Forever (2020) herauskam. Zu den Kollaborateuren gehörten dabei beispielsweise James und Ian Skelly (The Coral), Brooke Combe (DMAs), Charlie Salt (Blossoms) und Theo Hutchcraft (Hurts). Auch seine Bandkollegen Conan Moores und Michael Campbell haben nach seinen Angaben „ihre Magie in diese Songs eingebracht“. Die schiere Freude am gemeinsamen Musizieren wird auch im Video zum Titelsong (***) eingefangen, das Lied spielt mit französischen Elementen und verströmt mit Pfeifen, Glöckchen und sehr prominentem mehrstimmigen Gesang viel Leichtigkeit und Optimismus. „Ich denke, im Grunde geht es um eine kleine Flucht. Ein bisschen Zeit für sich selbst zu finden“, sagt Liam Fray zum Inhalt von Pink Cactus Café. „Es geht darum, den perfekten Ort zu finden; die Vorstellung, dass im Urlaub alles besser ist. Es geht um die Teehäuser in Marokko, die Strände in Marseille, das Frühstück zu Hause mit einem geliebten Menschen… Das ist wirklich die Utopie. Gibt es sie wirklich? Vielleicht nicht. Das hält uns aber nicht davon ab, ihr nachzujagen, oder?“

Wenn eine Band sich den Namen „Chefboss“ gibt, dann klingt das nach einem ziemlich unzerstörbaren Projekt. Corona war für die gleichnamige Hamburger Dancehall-Formation aber dann doch zu stark, Chefboss lösten sich auf. Frontfrau Alice Martin hatte somit viel Zeit, um (neben ihrem neuen Engagement als Sängerin der Münchener Urban-Brass-Band Moop Mama) in aller Ruhe an Beats zu basteln, die schließlich zu Grundlage ihrer Solokarriere als Älice wurden. Am 7. März wird ihr zweites Album Wo die Mango wächst erscheinen. Die bereits verfügbare Single Salbei (***) klingt ebenfalls ziemlich unkaputtbar, vereint Vorwärtsdrang, Selbstbewusstsein und ein paar textliche und klangliche Verweise auf die Herkunft der in Hamburg aufgewachsenen Künstlerin (ihre Mutter stammt aus Polen, ihr Vater aus der Karibik). Falls Salbei hier als ein Mittel genutzt werden soll, das die Stimme besänftigen kann, dann nur, damit Älice mit dieser Stimme noch klarer, noch öfter und noch lauter ihre Botschaft verbreiten kann.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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