Cici Arthur All So Incredible

Corona-Musik 51 mit Cici Arthur, All Seeing Dolls, Σtella, Nadia Reid und Last Train

Präambel: Mehr als 50 Folgen der Corona-Musik hat Shitesite nun seit April 2020 zusammengestellt. Jeweils gab es einen Blick auf Lieder, die von Corona beeinflusst waren, oder Acts, die ihre Erfahrungen mit der Pandemie anderweitig kreativ verarbeitet haben. Es wurden neue Formate der Zusammenarbeit erschlossen, Alternativen für einen direkten Kontakt zum Publikum erkundet, Zwangspausen genutzt, um neues Material zu schreiben. Auch fünf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Infektionsfälle in Deutschland erscheinen noch immer neue Songs, die es ohne die Pandemie nicht (oder jedenfalls nicht in dieser Form) gegeben hätte. Zugegebenermaßen ist der Bezug zu Corona dabei zuletzt aber immer indirekter geworden. Nach weit mehr als 200 Liedern mit Corona-Kontext, die hier vorgestellt wurden, geht die Serie deshalb mit dieser Folge zu Ende. Interessante Tracks, in denen Corona-Bezüge enthalten sind, werden auf Shitesite natürlich weiterhin gewürdigt. Entweder in Form von regulären Album-Rezensionen oder im Rahmen der „Futter für die Ohren“-Reihe. Danke für die Aufmerksamkeit!

In Deutschland haben während der Covid-Pandemie mehr als eine Million Menschen ihren Job verloren. In anderen Ländern sah es nicht anders aus, und so traf es auch den Kanadier Chris Cummings: Nach mehr als 20 Jahren in seinem bisherigen Beruf stand er plötzlich auf der Straße. Seine – inmitten einer auch in Toronto brachliegenden Kulturszene und in einem Alter jenseits der 50 – ziemlich überraschende Reaktion darauf war, sein bisheriges Hobby zum Beruf zu machen und sich nun tatsächlich vollständig der Musik zu widmen. In Joseph Shabason und Thom Gill fand er bald zwei Mitstreiter, zusammen bilden sie nun Cici Arthur. Shabason, der zuvor beispielsweise schon mit Fucked Up, Destroyer, The War On Drugs oder Born Ruffians gearbeitet hatte, erklärt seine Begeisterung für das neue Projekt: „Ich wollte eine wirklich groß klingende Platte für Chris machen. Ich habe ein paar Leute eingebunden, die mir noch einen Gefallen schuldeten, um dieses Album so großartig wie möglich zu gestalten. Ich wollte wirklich, dass Chris zu komplett abgemischten Songs singt, so dass es so ist, als würde er mit einer vollen Band spielen, mit der ganzen Energie eines Orchesters, das hinter ihm anschwillt und die Hörner schmettert, und ich denke, das ist der großartigste Ansatz, um eine Platte zu machen, den ich je verfolgt habe.“ Als Gäste sind nun unter anderem Arrangeur und Geiger Owen Pallet dabei, der tatsächlich ein dreißigköpfiges Orchester dirigierte, Schlagzeuger Phil Melanson und Sängerin Dorothea Pass. Die erste Single All So Incredible (***1/2) feiert zu einem hoch eleganten Sound die unverhofften Möglichkeiten und die kleinen, wenn auch vergänglichen Momente des Glücks. Das wirkt ein bisschen, als sei Nick Drake aus Versehen in eine Aufnahmesession hineingeplatzt, die eigentlich für Frank Sinatra gebucht war, und als habe dann jemand bemerkt, wie reizvoll die Ergebnisse dieser Verwechselung sein können. Am 21. Februar folgt das Album Way Through.

Nicht nur, wenn sie im Vorprogramm für Muse oder Placebo vor ganz großem Publikum spielen, lieben es Last Train, auf der Bühne zu stehen. Der Corona-bedingte Konzertverzicht war deshalb für das Quartett aus Lyon besonders schmerzhaft. „Wir waren stinksauer“, erinnert sich Gitarrist Julien Peultier an die Stimmung innerhalb der Band in dieser Phase. Sänger Jean-Noël Scherrer bekräftigt: „Wir waren nicht auf Tour, hatten also anderthalb Jahre lang keine Show gespielt, was bei Last Train noch nie vorgekommen ist, weil wir es sehr lieben, Shows zu spielen.“ Die vier Musiker, die schon als Schüler zusammengespielt hatten, wollten diese aufgestaute Energie unbedingt in eine kraftvolle neue Platte umlenken. „Wir waren frustriert und voller Wut. Wir waren bereit für den Kampf, als wir zu diesen Songs kamen“, sagt Scherrer über das neue Werk, das den Titel III trägt, innerhalb von nur drei Monaten geschrieben wurde und am 31. Januar erschienen ist. Die erste Single Home (*****) lässt diesen Worten sagenhaft eindrucksvolle Taten folgen: Das Thema ist Unwohlsein mit sich selbst und der Welt („There’s no place / I can call home“, lautet der Bezug zum Songtitel, später heißt es „I feel sick / in every way“), der Sound zeigt, wie glänzend das uralte Laut-Leise-Spiel immer noch funktionieren kann, wenn man es mit so viel Intensität umsetzt. Dass die letzten zweieinhalb von knapp sechs Minuten komplett ohne Gesang auskommen, tut der Spannung von Home kein bisschen Abbruch. Mega.

„Ich erinnere mich, dass ich dieses Lied während des Lockdowns geschrieben habe, in unserem Haus, das wir Ende 2019 in einem Vorort von Dunedin gekauft hatten. Es lag direkt auf dem Hügel, wie ein Baumhaus, in einem sehr schönen, üppigen Abschnitt“, sagt Nadia Reid über die Single Hold It Up (***1/2). Neben der Pandemie gab es im Leben der Neuseeländerin seit der Veröffentlichung von Out Of My Province (2020) noch eine weitere erhebliche Veränderung: Sie ist Mutter geworden, und das ist die Erfahrung, die ihr am 7. Februar erscheinendes viertes Album Enter Now Brightness am deutlichsten geprägt hat. „Es gibt Punkte im Leben, die, wenn man zurückblickt, eine Zeit der fast zellulären Veränderung waren“, sagt sie. Tatsächlich hatte sie nach der Geburt ihres Kindes dein Eindruck, „alle meine Zellen hätten sich verändert“. Das wird letztlich auch in Hold It Up sehr deutlich, das sehr reflektiert ist und doch sehr unmittelbar funktioniert, von ihrer tollen Stimme rund um die Aussage „Now I can be kind to anyone“ lebt und dezente Beats sehr harmonisch in das integriert, was im Kern noch Gitarrenmusik ist. „Es bringt die Vorstellung zum Ausdruck, dass ich jetzt zu jedem freundlich sein kann, Zärtlichkeit gegenüber der ganzen Welt empfinde, in die Welt verliebt sein kann. Es geht darum, Menschen zu sehen, selbst solche, von denen ich denke, dass ich nichts mit ihnen gemeinsam habe, und zu denken: Du bist jemandes kostbares Baby.“

Wir alle können uns noch an die Sache mit den 1,50 Metern Sicherheitsabstand in der ersten akuten Corona-Phase erinnern, und auch jenseits davon waren neue Begegnungen nicht unbedingt ein typisches Merkmal der Pandemie-Monate. Bei All Seeing Dolls war das anders. Anton Newcombe ist eigentlich beim Brian Jonestown Massacre aktiv, Dot Allison bei Sonic Cathedrals. Inmitten der Covid-Beschränkungen fanden sie musikalisch dennoch zueinander und gründeten dieses Duo, das am 28. März sein Debütalbum Parallel vorlegen wird. „Viele der Songs wurden während des Lockdowns geschrieben. In dieser Zeit sprachen Anton und ich oft über Musik, das Leben, was wir für wichtig halten, und teilten Songs, die wir mögen und sprachen über Künstler*innen, die wir mögen“, hat Dot Allison im Interview mit dem Clash Magazine über den Austausch zwischen Berlin (Newcombe) und Schottland (sie selbst) erzählt. „Wir beschlossen, Ideen auszutauschen, also schickte ich etwas mit Autoharp und Stimme oder Akustikgitarre plus Stimme, und er schickte mir tolle Ideen zurück. Wir haben uns gegenseitig unterstützt und gestärkt und ich sagte zu ihm, dass es ein bisschen wie ein Weihnachten ist, die Tracks zu hören, nachdem er sie zurückgeschickt hatte.“ Hört man die Single That’s Amazing Grace (***), kann man diese Aussagen nachvollziehen: In der Tat entsteht hier ein sehr reizvoller Kontrast aus einem Ambient-Fundament mit gehauchter Stimme und psychedelischen, gelegentlich sogar kraftvollen Elementen. Das alles wirkt dabei kein bisschen, als sei es in einer E-Mail- und Dropbox-Zusammenarbeit entstanden, sondern sehr organisch und sogar intuitiv.

Schon vier Alben hatte Stella Chronopoulou in ihrer griechischen Heimat unter dem Künstlernamen Σtella herausgebracht, als sie 2019 mit der Arbeit an Adagio begann. Auch die Begleitumstände von Corona brachten sie dann dazu, eine neue Arbeitsweise zu erproben. Sie tauschte E-Mails mit Rafael Cohen aus (der mittlerweile seine eigene Musik als Las Palabras veröffentlicht), die vor allem Link-Empfehlungen zu Platten und Klängen enthielten. Schnell wurde klar, dass beide sehr ähnliche Vorlieben haben, und so schrieben sie per digitalem Austausch fünf gemeinsame Songs, von denen drei schließlich auf Adagio landeten. Das Album wird am 4. April erscheinen, der Titel bezieht sich auf die Langsamkeit des Landlebens, die Σtella aus ihrer Kindheit kennt, und die – wie die zwangsläugige Zurückgezogenheit während der Corona-Monate zeigte – auch Freiheiten eröffnen kann. Die zweite Single Omorfo Mou (***1/2) spielt im Songtitel auf ein griechisches Verehrungsgelübde an (frei übersetzt: „meine Schöne“) und ist im Sound gleichermaßen verspielt und vielschichtig. Der ungewöhnliche Groove und der griechische Gesang mögen für unsere Ohren exotisch wirken, zugleich ist offenkundig, wie zeitgemäß und universell der Pop von Omorfo Mou ist. Σtella sieht das Stück als eine Ode „an alles, was uns wertvoll ist“ – das ist doch ein wunderbares Schlusswort für diese Reihe.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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