Corona-Musik 6 mit ZSK, Mads Langer, Delta Sleep, Mike Shinoda und Die höchste Eisenbahn

Mike Shinoda Dropped Frames Review Kritik
Mike Shinoda nutzt Twitch, um gemeinsam mit seinen Fans an neuer Musik zu arbeiten. Foto: CheckYourHead / Anna Shinoda

Spätestens seit dem Lockdown wissen wir: Twitch.tv nutzen nicht nur Nerds, um sich gegenseitig beim Spielen von Fortnite, League of Legends oder Counter Strike zu beobachten. Man kann aus der zum Amazon-Konzern gehörenden Streamingplattform auch eine Spielwiese für Musik-Ersatzerlebnisse machen, sei es ein Wohnzimmerkonzert oder eine Übertragung eines DJ-Sets aus dem geschlossenen Lieblingsclub. Entsprechend hat Twitch zuletzt profitiert: Allein im März stiegen die Nutzerzahlen um rund ein Drittel. Mike Shinoda von Linkin Park hat das Live-Streaming-Videoportal noch auf eine andere Weise für sich erschlossen: Während der Quarantäne hat er neue Musik produziert, und zwar gemeinsam mit seinen Fans. Täglich um 10 Uhr geht er live auf Sendung, diskutiert Ideen im Chat mit seinem Publikum und lädt die Zuschauerinnen und Zuschauer auch ein, eigene Beiträge zu senden. Mit Dropped Frames, Vol. 2 erschien gestern schon das zweite Album als Ergebnis dieser ungewöhnlichen Zusammenarbeit. Waren auf der ersten Auflage (am 10. Juli veröffentlicht) noch Vocals dabei (darunter auch Gesangsbeiträge von Fans), ist Vol. 2 rein instrumental geblieben. Für das Beat-lastige und gewitzte Isolation Bird (***) hat er Money Mark als Unterstützer gewonnen, das Ergebnis klingt eher nach Fatboy Slim als nach Nu Metal. Das Video deutet Mike Shinodas Gaming-Expertise an, auch sonst scheint der übliche Twitch-Kontext gelegentlich auf Dropped Frames, Vol. 2 abgefärbt zu haben: So hat er auf dem Track Side Scrolling ein paar Klänge aus dem Game Boy von Nintendo integriert.

Noch einen Schritt weiter gehen ZSK: Sie machen nicht neue Songs trotz Corona, sondern einen neuen Song über Corona. Die Geschichte begann als Gag bei Twitter: Dort bot die 1997 gegründete Punkband an, einen Song über den derzeit omnipräsenten Charité-Virologen Christian Drosten zu schreiben, wenn diese Idee mehr als 1000 Retweets bekommen würde. Der Songtitel Ich habe Besseres zu tun war dabei bereits vorgegeben und bezog sich auf einen Tweet von Drosten, mit dem er eine dreiste Interviewanfrage der Bild-Zeitung ablehnte. Schon nach zwei Stunden war die gewünschte Zielmarke erreicht und das Quartett machte sich ans Werk, um die ultimative Lobhudelei auf den Pandemie-Erklärer zu verfassen. Im Video kämpft der Virologe als Held in einem Jump’n’Run-Computerspiel gegen das Virus (und gegen die Deppen, die nicht an die Existenz von oder die Gefahr durch Covid-19 glauben). Sänger Joshi betont: „Die Sache ist natürlich aus einer Bierlaune heraus entstanden, aber der Tweet hat selbstverständlich auch einen ernsten Hintergrund. Mehr als 500.000 Menschen sind schon an diesem Virus gestorben. Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Wissenschaftler auf der ganzen Welt tun seit Monaten alles Menschenmögliche, um Leben zu retten. Bei uns gehört auch Christian Drosten dazu, der von Anfang an mit seiner ruhigen und schlauen Art über das Virus aufklärt. Wir finden es furchtbar und erschreckend, dass er dafür angefeindet wird, sogar Morddrohungen erhält. Wir sind zwar ’nur‘ eine Band aus Berlin, aber wir möchten ihm und seinen Kollegen unseren Dank und Solidarität ausdrücken. Unsere größte Verachtung gilt den ganzen rechten Corona-Leugnern.“ Musikalisch ist Ich habe Besseres zu tun (***) zwar nicht allzu inspiriert, als lustiges Corona-Phänomen aber in jedem Fall bemerkenswert. ZSK (ihr vor zwei Jahren erschienenes, aktuelles Album heißt übrigens Hallo Hoffnung) wollen die Situation nicht nur mit Humor nehmen, sondern dem „Chuck Norris der Wissenschaft“, wie er im Song genannt wird, auch Rückendeckung geben. „Er ist für uns der Punk in der Wissenschaft. Trotz der vielen Anfeindungen schafft er es cool und überlegt zu bleiben“ so Joshi. „Klar, für uns als Musiker ist die jetzige Situation katastrophal. Wir wären das erste Mal in Japan getourt, die Festivals im Sommer hätten das nächste Album finanziert. Aber wir wissen, dass es jetzt viel Wichtigeres gibt. Wir hoffen wir können mit dem Song unseren kleinen positiven Teil beitragen.“

Unter Konzertabsagen leidet auch Mads Langer. Der 26-jährige Däne hat dafür eine ganz eigene Lösung gefunden: Er war der weltweit erste Künstler, der ein Drive-In Konzert veranstaltete. Das Event fand Ende April in Aarhus statt, im Publikum waren 2000 Menschen, verteilt auf 500 Autos. Er hat weitere Shows in diesem Format angekündigt, und die Aufmerksamkeit, die ihm die Weltpremiere eingebracht hat, soll sicherlich Rückenwind für die neue Single Life In Stereo (**) bringen. Man kann darin viel vom Talent des Multiinstrumentalisten erkennen, der in seiner Heimat auf Platin-Erfolge verweisen kann und auch regelmäßig Lieder auf Dänisch veröffentlicht. Der Song will aber ein bisschen arg penetrant Sommer, Unbeschwertheit und Zuversicht verbreiten, und das auch noch „all over the world“. Wie schlecht das in die Zeit passt, hätte Mads Langer beim Drive-In-Konzert eigentlich merken können.

Einen anderen Ausweg aus der Live-Abstinenz haben Die Höchste Eisenbahn gefunden. Die Band greift im Sommer das interessante Konzept der Picknick-Konzerte auf und ist in diesem Format beispielsweise am 9. Augiust auch in Leipzig zu sehen. Passend dazu wurde gerade StallWaldKirche digital veröffentlicht, das drei Songs aus dem aktuellen Album Ich glaub dir alles in Live-Versionen enthält. Wer sich über den seltsamen Namen der EP wundert: Zieh mich an wurde im Stall, Louise im Wald und Überall in der Kirche aufgenommen, jeweils auch mit dazugehörigen Videos. „Wir sind nach Haldern gefahren, um in der legendären Pop Bar ein kleines Konzert zu spielen, aber waren, weil irgendjemand zuviel Puffer ausgerechnet hatte, einen Tag zu früh da. Also haben wir angefangen, wie wahnsinnig Content zu produzieren“, sagt Francesco Wilking, einer der beiden Frontmänner der Band aus Berlin. Wie schön dieses Zufallsprodukt geworden ist, zeigt beispielsweise die Kirchen-Version von Überall (***1/2): Das ist freischwebend und, passend zu diesem Ort, enorm beseelt.

Delta Sleep lösen das Problem ausgefallener Konzerte aus der Erinnerung. Soft Sounds ist so etwas wie ein musikalisches Reisetagebuch der Band aus Brighton. Während ihrer Tourneen in den vergangenen Jahren haben sie immer wieder Zwischenstopps an besonders schönen Orten gemacht, etwa in Paris, Tokio, Brooklyn, Dallas, Los Angeles oder Griechenland, um dort spontane Versionen ihrer eigenen Songs aufzunehmen. Diese zehn Akustiksessions haben sie nun als Soft Sounds-Videoreihe veröffentlicht. Mit dem neuen Song A Casa (***) schließt das Trio das audiovisuelle Projekt ab. In diesem Fall wurde das Video nicht auf Reisen, sondern – nomen est omen – im Lockdown gedreht. „Jeder filmte seine Performance mit dem Handy an den Orten, an denen wir uns isolierten. Dieses Video ist vielleicht kein eindrucksvoller Kurzfilm wie die anderen Episoden von Soft Sounds, aber wir hielten es für eine gute Möglichkeit, die gesamte Serie zusammenzufassen und euch einen kleinen Einblick in unsere Arbeit während des Lockdowns zu geben“, erklärt die Band. Diese Arbeit umfasst übrigens auch erhebliche Fortschritte an Album #3. Vielleicht klappt es dann ja auch mit der Welttournee, die eigentlich für 2020 geplant war und sicher viele neue Souvenirs für das Delta-Sleep-Reisetagebuch gebracht hätte.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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