Autor | Daniel Decker | |
Titel | Not Available – Platten, die nie erschienen sind | |
Verlag | Ventil | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
„Richtige Musikliebhaber sind wahnsinnige Snobs“, hat Nick Hornby einmal gesagt. Er darf das, denn er schließt sich selbst sicher in beiden Kategorien („echter Musikliebhaber“ und „Snob“) ein. Auch Daniel Decker kann man wohl guten Gewissens in diese Reihe stellen. Der 1982 geborene Autor schrieb unter anderem für Intro, Musikexpress.de und Rollingstone.de., ist selbst Sänger und Songwriter und hat auch seinen Debütroman Dør (2019) in der Popkultur angesiedelt. Er erzählt darin die Geschichte der verschollen geglaubten sechsten LP einer Band.
Schon dieser Plot zeigt, dass Decker genau verstanden hat, was das ultimative Manna für die eingangs erwähnten Musik-Snobs ist: Wie könnte man sich besser über das gewöhnliche Publikum oder (noch besser!) konkurrierende Afficionados erheben als mit dem Wissen über Musik, die nie das Licht der Welt erblickt hat? Die Kenntnis mystischer Meisterwerke, die in den Archiven schlummern, oder extravaganter Experimente, von denen nur wenige Exemplare existieren, ist natürlich das, wonach sich Hardcore-Fans sehnen und was zum Prahlen vor der Konkurrenz wie geschaffen ist.
Mit Not Available – Platten, die nie erschienen sind widmet er sich nun in einem Sachbuch dieser Gattung. Der Verweis auf Snobs, Nerds und Komplettisten als Zielgruppe löst auch schnell den Widerspruch auf, den man anno 2021 in dieser Thematik erkennen könnte. Noch nie war es einerseits so einfach, mit überschaubarem technischen und finanziellen Aufwand vergleichsweise professionelle Musikaufnahmen zu fabrizieren und sie einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Noch nie waren andererseits auch die Recherche nach und der Zugriff auf musikalische Raritäten so komfortabel und umfassend möglich wie im Online- und Spotify-Zeitalter. Bereits im Vorwort verweist der Autor deshalb auf die enge Verknüpfung von unveröffentlichten Werken mit einem realen Tonträger, genauer gesagt, und Snob-konform: dem Album, idealerweise auf Vinyl.
Sehr gekonnt zeigt er dann auf fast 250 Seiten, dass das Genre „Platte, die nie erschienen ist“ und all die Konflikte, Mythen, Anekdoten und Gerüchte, die sich darum ranken, keineswegs ein Anachronismus ist. Natürlich sollte man zunächst davon ausgehen, dass sowohl Künstler*innen ein Interesse daran haben, ihre jüngst entstandenen Werke unters Volk zu bringen, als auch Plattenfirmen, die diese Acts just zu diesem Zwecke unter Vertrag genommen haben und mit diesem Geschäftsmodell ihr Geld verdienen. Mit einem sehr systematischen Ansatz (Decker hat Musikwissenschaft studiert und definiert hier sehr genau seine Kategorien und Begriffe) zeigt der Autor dann, wie oft dieses vermeintlich naheliegende Bestreben scheitern kann, und identifiziert dabei sechs Hauptgründe für Nichtveröffentlichung: 1) die Weigerung der Plattenfirma, das entstandene Material zu veröffentlichen, 2) absichtlich als unhörbar produziertes Material, um der Plattenfirma beispielsweise bei noch ausstehender Erfüllung unliebsamer Verträge seitens der Künstler*innen eins auzuwischen, 3) Platten, die nur als Vorstufen zu dann tatsächlich veröffentlichten Werken zu betrachten sind, 4) Musik, mit denen ihre Schöpfer*innen selbst unzufrieden sind, oft weil sie sich ein besonders ambitioniertes Ziel gesetzt hatten, 5) Aufnahmen, die nie zur Veröffentlichung gedacht waren, sondern beispielsweise nur als Privatvergnügen und 6) Platten, bei denen die Nichtverfügbarkeit zum künstlerischen Konzept gehört.
Ganz konsequent hält der Musikjournalist sich zwar nicht an sein vorgegebenes Schema, so findet man im Buch beispielsweise auch Songs, die bloß angedacht waren, aber nie zustande kamen (wie ein Duett von Michael Jackson mit Prince), Werke, die vollends bloß in der Fantasie von Fans existieren (wie das Ibiza-Album von Neil Young) und sogar ein ganzes Kapitel über Platten, die sehr wohl veröffentlicht wurden (wenn auch erst viele Jahre nach ihrer eigentlichen Entstehung). Die Sortierung in diese Cluster macht die Lektüre dennoch tatsächlich erheblich interessanter als beispielsweise ein rein chronologisches Vorgehen.
Zu den Betroffenen oder Beteiligten gehören zahlreiche große Namen der Musikgeschichte wie Frank Sinatra, die Beatles, die Beach Boys, die Rolling Stones, Jimi Hendrix, Abba, Bruce Springsteen, U2 oder Nirvana. Not Available – Platten, die nie erschienen sind berichtet aber auch von reichlich aktuelleren Acts, die unterstreichen, dass nicht veröffentlichte Alben und Songs bei weitem kein historisches Phänomen sind, sondern auch heute noch regelmäßig entstehen, wovon etwa Katy Perry, 50 Cent, Skrillex, Lady Gaga, Adele, Ed Sheeran, Charli XCX oder Ke$ha ein Lied singen können.
Insgesamt sind mehr als 400 Bands und Interpret*innen vertreten, zum Abschluss des Buchs hat Decker eine Diskografie unveröffentlichter Alben mit über 300 Einträgen erstellt. Er betrachtet das Werk als „eine unterhaltsame Fakten-Schleuder für den amüsanten Trivia-Talk beim hiesigen Treffen der Musik-Fanatiker*innen.“ Die Sache mit dem Unterhaltungsfaktor klappt nicht ganz so gut, weil sein Schreibstil wenig Esprit hat. Leider kompiliert er auch lediglich vorliegende Informationen. Ein paar eigene Inhalte, etwa Interviews mit Experten für Urheberrecht, Insidern von Plattenfirmen oder natürlich betroffenen Künstler*innen selbst, wären ein Mehrwert auch gegenüber den durchaus bereits existierenden Büchern zu diesem Thema gewesen. Solche Kapitel hätte man auch als Auflockerung zwischen die Auflistung all der verschollenen Schätze oder aus gutem Grund weggesperrten musikalischen Fehlgriffe dienen können.
Der Anspruch des Futters für den Trivia-Talk wird hingegen vollends erfüllt, vor allem dank der enormen Faktenfülle und Rechercheleistung. Wir lernen Pechvögel wie Blaze Foley kennen, dem gleich drei Mal auf abenteuerliche Weise die Masterbänder für ein fertiges Album abhanden gekommen sind. Wir erfahren von ungewöhnlichen Kollaborationen wie denen zwischen Beck und Puff Daddy, Jay-Z und Jack White oder LCD Soundsystem und Britney Spears, deren mutmaßliche Resultate im Giftschrank gelandet sind. Wir dürfen uns auf die Spur des bloß als gebrannte CD existierenden „Stalker“-Albums von Sufjan Stevens begeben, das ausgerechnet ein Stalker aus dem Hausmüll des Künstlers fischte. Dazu gibt es Ausflüge in das System der Zensur in der DDR oder einen Blick auf die Verluste durch abgebrannte Lagerhallen und zerstörte Archive.
Und natürlich spürt Daniel Decker immer wieder der Faszination nach, auf musikalische Schatzsuche zu gehen – und dabei womöglich auch heftig enttäuscht zu werden. „Das Tragischste, das einem bisher unveröffentlichten Album passieren kann, ist bisweilen die Veröffentlichung selbst. Meist wird klar, dass die Vorstellung des Ungehörten viel besser als die (bittere) Realität ist“, erkennt er treffend. Neugier und Forscherdrang von Fans (oder Snobs) tut das natürlich keinen Abbruch: „In einer Zeit, in der der alles, sogar wir selbst, allzeit verfügbar sein muss, wohnt der Unverfügbarkeit ein Zauber inne. (…) Es ist die Entdeckung, die den Reiz ausmacht, in einer Zeit, in der sonst Algorithmen vermeintlich passende Hörvorschläge in die Playlist pushen.“
Bestes Zitat: „Warum erscheinen Alben dann doch, obwohl sie einst als unveröffentlichbar galten? It’s capitalism, stupid!“