Sentimentalitäten finden im Leistungssport selten einen Platz. Was sich gestern Abend in der Red Bull Arena rund um Emil Forsberg und RB Leipzig abgespielt hat, war auch deshalb ein sehr spezieller Moment. Es war der perfekte Abschied eines weiterhin sehr besonderen Spielers von einem weiterhin sehr besonderen Verein.
Eine meiner ersten Fußball-Erinnerungen sind die Dribblings von Diego Maradona bei der WM 1986. Später wollte ich auf dem Bolzplatz gerne Damian Halata sein, im Fernsehen fieberte ich als kleiner Junge mit Pierre Littbarski und Karlheinz Pflipsen. Diese Spieler waren (ganz anders als ich) klein, wuselig und technisch hoch begabt. Man konnte von ihnen jederzeit einen tollen Trick oder einen genialen Pass erwarten. Auch Emil Forsberg gehört in diese Reihe. Als er nach Leipzig kam, damals noch in der Zweiten Liga, hatte er anfangs die Rückennummer 12, schnell wurde daraus die Ziffer, die viel besser passt und die er bis heute trägt. „Die 10 zieht die Fäden, sie verströmt den Zauber des Unerwarteten und macht aus Fußball das Spiel, das manchmal größer ist als das Leben“, haben Rüdiger Barth und Giuseppe di Grazia in ihrem Buch als Huldigung dieser Rückennummer geschrieben, und das galt natürlich auch für Emil Forsberg. Den anderen Genannten hat er in meiner Sympathie-Skala dabei etwas Entscheidendes voraus: Er spielte für RB Leipzig, für meinen Lieblingsclub, in der schönsten Stadt der Welt, wie es Stadionsprecher Tim Thoelke vor jedem Heimspiel treffend bezeichnet. Ich konnte ihn somit live im Stadion erleben und dabei sein, wenn der Schwede auf dem Platz zauberte und unzählige wichtige Momente geprägt hat.
Das erste Champions-League-Tor des Vereins gehörte dazu, ein Treffer beim ersten Leipziger Sieg in der Champions League, ganz entscheidende (und gerne auch späte) Tore in den DFB-Pokal-Halbfinals 2019, 2020 und 2022. Vielleicht sein größter Moment in den insgesamt 324 Spielen mit insgesamt 140 Scorer-Punkten: Ein Doppelpack in der Nachspielzeit gegen Benfica Lissabon, der letztlich erst den Weg für den späteren Halbfinal-Einzug von RB Leipzig in der Königsklasse ebnete. Auch sonst hatte er ein Händchen für historische Momente: Forsberg hat sowohl das 500. als auch das 1000. Pflichtspieltor in der Geschichte von RBL geschossen, dazu kommt der Treffer gegen Karlsruhe, der 2016 leztlich den Aufstieg in die Bundesliga besiegelte.
Dass der 32-Jährige, der glücklicherweise lieber in eine Weltstadt wechselt als in die Wüste, bei seinem Abschied (mit einem Tor und einer Vorlage wurde er passenderweise zum Matchwinner im Spiel gegen Hoffenheim) so ausgiebig gefeiert wurde, liegt längst nicht nur an solchen sportlichen Verdiensten. Forsberg war auch deshalb ein absoluter Publikumsliebling, weil er abseits des Platzes so locker und freundlich rüberkam, und weil er längst selbst gemerkt hat, wie gut er zu diesem Verein und in diese Stadt passt.
Ebenso gut wie an seine Glanzleistungen wie die 22 Assists in der Saison 2016/17, die bis heute Bundesliga-Rekord sind, kann man sich als Fan an das regelmäßig Bangen erinnern, sobald ein Transferfenster nahte. Sein Berater Hasan Cetinkaya nutzte eine Weile jede Möglichkeit, um bessere Vertragskonditionen für seinen Klienten herauszuholen, mal stand ein Wechsel nach Mailand im Raum, mal war angeblich der FC Bayern sehr interessiert. Dass Forsberg letztlich neun Jahre in Leipzig bleiben würde, war damals kaum denkbar, ebenso wie die Tatsache, dass sich der schwedische Nationalspieler mit einer Rolle als Nicht-Stammspieler anfreunden könnte. Doch genau das ist zuletzt geschehen. In der Rangordnung im offensiven Mittelfeld war Leipzigs Nummer 10 zuletzt nur noch auf Platz 4, kam in der Bundesliga meist von der Bank und hat auch nicht mehr die Top-Werte bei den Torbeteiligungen zu bieten, wie sie in den Vorjahren stets garantiert waren, wenn er frei von Verletzungen blieb. Öffentlichen Ärger hat Forsberg dennoch nie gemacht. Stattdessen nahm er seine neue Rolle an, war wichtig als Joker und Integrationsfigur für neue Spieler und entwickelte insbesondere seit dem Amtsantritt von Marco Rose als Trainer noch erstaunliche neue Stärken in der Defensivarbeit.
Zusätzlich hörte man in den vergangenen Jahren immer wieder von ihm, wie wohl er sich im Verein, in der Mannschaft und in der Stadt fühlt. So gerne er in der Blütezeit seiner Karriere mit einem Abschied kokettiert hat, so glaubhaft war nun die Aussage, dass Leipzig seine zweite Heimat geworden ist.
Diese Identifikation ist typisch für viele seiner Wegbegleiter im Club, von Peter Gulacsi und Yussuf Poulsen (die einzigen Spieler, die mehr Bundesliga-Spiele für RBL gemacht haben als er) über Willi Orban und Lukas Klostermann bis zu Kevin Kampl, seinem größten Buddy im Kader. Das Bewusstsein, Teil einer ganz besonderen Gruppe zu sein, die eine einmalige Geschichte gemeinsam schreibt und diese auch krönen möchte, war womöglich der entscheidende Faktor dafür, dass RB Leipzig 2021 tatsächlich erstmals einen Titel holte – oder, wie es ein legendärer Versprecher Forsbergs in einer Pressekonferenz besagte: endlich Titten!
Der Buchstabendreher wurde schnell zum geflügelten Wort bei den Fans, und der Schwede reagierte darauf, indem er eine limitierte T-Shirt-Edition verschenkte, als das Versprechen endlich eingelöst war und die Mannschaft tatsächlich eine Trophäe nach Leipzig bringen konnte. Bei der Siegesfeier waren sicherlich einige kleine Fans dabei, die der lebende Beweis dafür sind, wie beliebt der Spielmacher in Sachsens größter Stadt (auch seine Ehefrau Shanga spielte übrigens zwei Jahre lang für RB) längst war: In den Jahren 2016, 2017, 2020 und 2021 war Emil der beliebteste Vorname für neugeborene Jungs in Leipzig, 2015, 2018 und 2019 stand der Name auf Platz 2 der Beliebtheitsliste (deutschlandweit kam Emil nur 2021 und 2022 in die Top 10).
Es wäre natürlich ein Traum, wenn einer dieser insgesamt 455 kleinen Emils, die während Forsbergs Zeit bei RB in Leipzig geboren wurden (die aus 2023 kommen noch hinzu), irgendwann in die Fußstapfen des berühmten Namenspaten treten kann und für RB Leipzig auf dem Platz steht. Noch viel wahrscheinlicher erscheint es nach dem emotionalen Abschied, dass der Schwede selbst eines Tages in anderer Funktion zurückkehrt – zumal er mit dem Wechsel zu den New York Red Bulls ja innerhalb des RB-Kosmos bleibt.
Das letzte Heimspiel der Leipziger Legende hat aber noch etwas anderes gezeigt: Bei RB hat man erstens längst ein Maß an Verbundenheit und Treue entwickelt, von dem viele andere Vereine, die so gerne von Tradition und Identifikation reden, nur träumen können. Fünf Spieler im aktuellen Kader sind seit 2015 oder länger im Verein, auf diesen Wert kommen nur 5 weitere der 36 Profimannschaften in Deutschland. Zweitens hat man in Leipzig als Fan (noch) die einzigartige Möglichkeit, die Idole der Vereinsgeschichte selbst mit zu erleben. Forsberg steht auf Platz 3 in der Liste der Rekordspieler des Vereins, damit ist er für RB in der Region, wo Gerd Müller, Michael Zorc, Bernd Nickel, Guido Buchwald oder Ulf Kirsten bei anderen Clubs in den Annalen stehen. Mit dem Unterschied, dass man ihn eben selbst noch in Aktion sehen, anfeuern und bejubeln konnte, dass jeder Fan eine persönliche Beziehung aufbauen und seine ganz individuellen Highlight-Momente erleben konnte. Die Sternstunden der Vereinsgeschichte stehen bei RB Leipzig nicht im Museum, sind nicht in Büchern oder Archivmaterial zu bestaunen, sondern passieren Woche für Woche im Stadion. Es gibt in diesem Club keine ältere Generation, die noch die vermeintlich wahren Helden und die angeblich goldenen Zeiten erlebt hat und daraus einen Vorsprung an Autorität und Authentizität gegenüber jüngeren Fans ableitet. Geschichte wird stattdessen gerade jetzt geschrieben, und alle Fans sind Teil davon. Auch das macht den großen Reiz dieses Clubs aus, auch das gehört zum „RB – kickt anders“, was der Verein in diesem Jahr so treffend als Credo gesetzt hat.
Nicht zuletzt war der emotionale Abschied, verbunden mit diesem besonderen Profil, vielleicht auch ein Fingerzeig für jüngere Mannschaftskollegen. Die sportliche Führung in Leipzig hat es leider verpasst, eine neue Generation von Identifikationsfiguren aufzubauen und zu binden. Spieler wie Sabitzer, Laimer, Konaté oder Szoboszlai, die das Zeug dazu gehabt hätten, haben RB verlassen. Aktuelle Profis wie Simakan, Openda, Raum oder Baumgartner bekommen aber noch genug vom RB-Spirit der alten Recken um Forsberg mit, um zu erkennen, wie einzigartig dieser Verein ist. Vielleicht haben die Sprechchöre im Stadion dem einen oder anderen von ihnen gezeigt: Wenn du hier bleibst und stark spielst, kannst du eine Legende werden.