Martin Luther war nie in Havanna. Doch fast könnte man meinen, der Reformator sei einst unter Palmen gewandelt, habe sich durch den Smog gequält, sei durch die engen Gassen spaziert. Denn der Wittenberger Mönch hat die vielleicht wichtigste Tugend für die mehr als zwei Millionen Einwohner der kubanischen Hauptstadt formuliert: „Auf dieser Welt muss entweder bald gestorben oder geduldig gelebt werden.“
Man muss in Havanna kein Spanisch können, keinen Son tanzen, keinen Mojito zubereiten. Aber man muss warten können. Als Tourist wartet man auf die nächste frische Brise, auf den Aufzug im Hotel oder auf eine kleine Lücke im endlosen Strom der uralten Autos, die sich die sieben Kilometer lange Hafenpromenade Malecon entlangschlängeln.
Als Habanero ist noch mehr als eine Engelsgeduld und gutes Sitzfleisch gefragt. Wer in Havanna lebt, lernt Demut – und Warten. Warten auf den nächsten Bus, der nach Feierabend zurück in die Vororte fährt. Warten auf Ersatzteile fürs Auto. Warten auf Zement, um die Hurrikan-Schäden beseitigen zu können, warten auf die längst überfällige Benzinlieferung, warten auf das Ende des Stromausfalls.
Kuba ist noch immer eine Mangelwirtschaft, und Havanna wirkt wie ein Museum des Sozialismus: Einkaufsregale sind leer, an den Parkbänken fehlen fast immer ein paar Latten, kaum verkehrstüchtige Autos, die von den Kubanern liebevoll „die Überlebenden“ genannt werden, blasen ihren Lärm und Gestank ungefiltert in die Stadt. Das einzige, was frisch gemalert ist, sind die Propaganda-Sprüche der Kommunistischen Partei auf den Häuserwänden. Der Erzfeind USA wird verdammt, der Revolutionsheld Che Guevara gefeiert.
Seit 1959 regiert Fidel Castro die Insel, und erst vor Ort versteht man, warum er sich so lange an der Macht halten konnte. Es ist eine Mischung aus Zufriedenheit und Gleichgültigkeit in seinem Volk, die ihn stützt. Es ist der Stolz auf ein Land, das unter den Entwicklungsländern noch immer zu den wohlhabendsten zählt, das ein vorbildliches Gesundheitssystem sein Eigen nennt und hinsichtlich der Bildungsstandards manchen westlichen Staat hinter sich lässt.
Und es ist die tägliche Erfahrung, nur ein ganz kleines Rädchen in einem riesigen Getriebe zu sein. Die Schriftstellerin Zoé Valdés nennt die Kubaner „Mönche eines blinden Gehorsams“. Erlebt man die bis zur Selbstverleugnung reichende Demut der Habaneros, dann versteht man, was sie meint. „Wir leben hier wie die wilden Tiere, warten, warten, warten, bis uns der Karren holt… der zum Karneval oder der zur Beerdigung.“
Einer, der nicht mehr warten wollte, ist Juan Carlos Acosta-Casillo. Er ist in Havanna geboren, seine Großeltern und Eltern waren überzeugte Anhänger der Revolution, Sozialisten durch und durch. Doch irgendwann hielt es Juan Carlos nicht mehr aus auf „der schönsten Insel, die Menschenaugen je gesehen haben“ (Christoph Kolumbus beim Anblick Kubas). Nach dem Entdecker ist der Friedhof benannt, auf dem Juan Carlos jeden Tag des Grab seiner Mutter besucht. Auf dem „Cemetario de Colón“ erzählt er mir seine Lebensgeschichte.
Als Juan Carlos 16 Jahre alt war und seine Baseball-Mannschaft ein Gastspiel in Toronto bestritt, setzte er sich ab. Er heiratete eine Stripperin und lebte 15 Jahre lang in den USA. Als Baseballprofi bei den Kansas City Royals verdiente er sein Geld, studierte später in Miami. Als seine Mutter im Sterben lag, ging er zurück nach Kuba. Doch die Eltern hatten längst mit ihm gebrochen, mit dem Vater wechselt er noch heute kein Wort.
Als Landesverräter war es auch schwer für ihn, einen Job zu finden. Er trainierte ehrenamtlich eine Baseballmannschaft, schließlich bekam er eine Stelle als Physiotherapeut, wo er sieben Euro im Monat verdient. Juan Carlos zeigt auf seine Schuhe: Die Sohlen sind fast nicht mehr vorhanden, der Absatz notdürftig angeklebt. „Neue Schuhe kosten 70 Euro“, erklärt er.
„Bis zum Zusammenbruch des Ostblocks ging es uns gut. Aber jetzt sind wir auf die Barmherzigkeit der Touristen angewiesen, um unsere Familien ernähren zu können“, sagt Juan Carlos. Ihm fehlt nicht so sehr der Wohlstand, sondern viel eher die Freiheit. „Hier sagen sie Dir, was Du tun sollst, wie und wann.“
Deshalb will er wieder weg. Inzwischen ist er 43 – zu alt und zu weise, um sich auf einem Autoreifen über den Golf von Mexiko zu wagen. Hunderte junge Kubaner versuchen jedes Jahr auf diese Weise die Flucht, die wenigsten von ihnen erreichen Florida lebend. Juan Carlos sucht einen anderen Weg. Er liebt Havanna, diese Stadt, die – wie der Schriftsteller Abilio Estévez treffend bemerkt – zwei Eindrücke zugleich erweckt: „den einer Stadt, die bombardiert wurde und nur auf den leisesten Regenschauer wartet, auf den geringsten Windstoß, um zu einem Steinhaufen zusammenzufallen; und den einer prächtigen, ewigen Stadt, gerade erst gebaut, als Geschenk an die Unsterblichkeit.“ Juan Carlos liebt den Malecon, der sich in den Sommernächten zu einem Karneval aus Musik, Tanz und viel Rum entwickelt. Er liebt die Altstadt, das lebendige Treiben auf der Plaza de Armas, den morbiden Mafia-Flair im Vedado, die Kolonialbauten, die streunenden Katzen. Aber für ein Ticket in den Westen würde er fast alles tun, „sogar eine deutsche Frau ohne Arme und ohne Beine heiraten. Und glaub‘ mir: Ich würde sie sehr, sehr glücklich machen“, schwört Juan Carlos.
Er kennt allerlei Geschichten zu den meist schneeweißen Marmorgräbern, die den Friedhof Montparnasse in Paris als „zu Stein gewordene Eitelkeit“ (Milan Kundera) noch in den Schatten stellen. Juan Carlos erzählt von den Revolutionshelden, die hier in Reih und Glied beerdigt sind, von Pilar Martin, die mit ihrem letzten Atemzug 1925 noch ein Domino-Spiel gewann und von Amelia Goyri, die 1901 mit ihrem Kind zwischen den Beinen begraben wurde und heute als Heilige verehrt wird.
Als das Thema „Politik“ aufkommt, will er aber weg vom Friedhof. „Hier können wir darüber nicht reden“, flüstert er. Als einstiger Republikflüchtling wird er nach eigenen Angaben noch immer beobachtet. Erst im Café „Fresas y chocolat“, benannt nach dem kubanischen Kino-Erfolg und nicht weit weg von der Stelle, wo Fidel Castro mit einer siebeneinhalbstündigen Rede die Revolution nach Havanna brachte, fühlt er sich sicher genug, um offen zu sprechen. „Im Westen des Landes gibt es immer mehr Leute, die Fidel hinterfragen und von ihm die Nase voll haben. Aber die Ost-Kubaner lieben ihn noch, da würden sie für ihn sterben. Und Fidel hat immer noch das Charisma. Wenn Fidel mit Dir redet, wird er Dich überzeugen“, meint Juan Carlos.
Was passiert mit dem Land, wenn der Diktator einmal nicht mehr am Leben ist? „Das nennen wir in Kuba die Eine-Million-Dollar-Frage“, sagt Juan Carlos. Eine Antwort hat auch er nicht. Wenn es ganz schlimm kommt, könnte es Blutvergießen geben, vielleicht öffnet sich das Land auch für Investoren aus dem Westen. Juan Carlos zuckt mit den Schultern. Und wartet.